Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Serhii Plokhy: The Cossack Myth. History and Nationhood in the Age of Empires. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2012. XV, 386 S., 13 Abb., 4 Ktn. = New Studies in European History. ISBN: 978-1-107-02210-2.

Das Thema ukrainischer Identitäts- und Nationsbildung im Rahmen des russländischen Imperiums hat den Harvard-Professor Serhii Plokhy bereits in mehreren seiner Publikationen beschäftigt. Seine neueste Studie verortet die wohl Anfang des 19. Jh. anonym verbreitete „Istorija Rusov“ in ihrem imperialen Kontext. Ihr Gegenstand ist die Geschichte der kleinrussisch-ukrainischen Kosakenbewegung bis ins ausgehende 18. Jahrhundert. Plokhy zeichnet nach, wie sich das Kosakenthema ausgehend von der „Istorija Rusov“ im Laufe der Zeit zum Kern ukrainischer historischer Mythen- und Identitätsbildung entwickelte. Bei der „Istorija Rusov“ handelt es sich dabei nach Plokhy um ein Nationalepos an der Schnittstelle zum romantischen Zeitalter. Sie ist nicht nur darin der schottischen Ossian-Dichtung und der Handschriftenfälschung des Tschechen Václav Hanka vergleichbar: In all diesen Fällen versuchte eine regionale Elite der eigenen Marginalisierung und dem Verlust an Autonomie entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck gab sie eine historische Meistererzählung in Auftrag. Diese belegte die eigene kulturelle und historische Gleichrangigkeit oder Überlegenheit innerhalb des imperialen Kontextes. Auf diese Weise versuchte die vom Abstieg betroffene regionale Notabeln­gesellschaft sich doch noch erfolgreich ins Imperium zu integrieren, ohne dieses Imperium selbst zwingend nach der Art späterer nationaler historischer Sinngebungsversuche bereits in Frage zu stellen. Diese breitere, vergleichende historische Einordnung der „Istorija Rusov“ nimmt Plokhy am Ende des Buches im Epilog vor.

Im ersten Teil beschreibt Plokhy, wie die „Istorija Rusov“ während der ersten Hälfte des 19. Jahrhundertsnoch vor ihrem Erscheinen im Druck 1846politisch und literarisch rezipiert wurde. Wenn er hier nachzeichnet, welch unterschiedlichen Lesarten das Manuskript unterworfen wurde, so baut sich so etwas wie romanhafte Spannung über die faszinierend vielfältige Wirkmächtigkeit des Textes auf. Die Bandbreite der Interpretationen spurte erst mit Taras Ševčenko auf eine ausschließlich nationalukrainische Auslegung ein, die die Kosaken zu dem ukrainischen historischen Kernmythos erhob. Für den Protagonisten der Dekabristenbewegung Kondratij Ryleev etwa stand der Gegenstand der „Istorija Rusov“ beispielhaft für den Freiheitskampf und die Freiheitsliebe im Sinne einer konstitutionellen republikanischen Ordnung gegen politische Unterdrückung und die Autokratie. Aleksandr Puškin interpretierte den Text demgegenüber nach dem polnischen Aufstand von 1830 als Ausdruck anti-polnischen, anti-katholischen, pro-imperialen russischen Patriotismus. Nikolaj Gogol’ / Mykola Hohol faszinierte in erster Linie das heroisch-romantische Element der Kosakengeschichte, die sich in der von historischen polnischen und russischen Ansprüchen umkämpften Ukraine abspielte. Damit bediente er ein russisches Publikum, welches nach 1830 ein großes Interesse für diese Region des Imperiums entwickelte, in der man die historischen Ursprünge russischer Geschichte und das Zentrum der Kämpfe gegen die Feinde Russlands sah.

Das nachfolgende Kapitel skizziert, wie sich die ukrainische Historiographie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der ungeklärten Frage der Autorschaft der „Istorija Rusov“ auseinandersetzte. Plokhy durchmisst dabei sämtliche Peripetien der Entwicklung der ukrainischen Historiographie bis zum Untergang der Sowjetunionund diese sind zahlreich. Dabei begegnen wir den Protagonisten der ukrainischen Geschichtswissenschaft, die sich praktisch ausnahmslos mit dem Rätsel der Autorschaft der „Istorija“ beschäftigt haben, und durchschreiten anhand von deren Schicksalen gleichzeitig die Wechselfälle der jüngeren ukrainischen Geschichte. Meisterhaft, wie Plokhy hier einem eigentlich staubtrockenen Thema durch solche Einbettung Leben einzuhauchen versteht.

Ab dem dritten Teil des Buches nähert sich nun Plokhy selbst mittels verschiedener Einordnungsversuche der Frage der Autorschaft an. Diese Abschnitte können dabei als Paradestück textkritischer historischer Analyse und Kontextualisierung dienen. Plokhy verortet den Text vor dem historisch-kulturellen Hintergrund seiner Entstehungszeit. Subtil kontrastiert er den Kosakenmythos der modernen, antisowjetischen ukrainischen Nationalbewegung, die seit den sechziger und dann vor allem seit den achtziger Jahren an Fahrt gewann, mit den Aussagen des Epos aus dem frühen 19. Jahrhundert, auf welches ebendiese moderne Nationalbewegung sich beruft. Die Idee einer ukrainischen, kosakischen „Nation“, die sich in der „Istorija Rusov“ widerspiegelt, geht dabei aufs ausgehende 18. und das frühe 19. Jahrhundert zurück. Dabei war die „Istorija Rusov“ beeinflusst vom aufklärerisch-romantischen Denken französischer Autoren (Voltaire, Scherer). Anders als es die moderne ukrainische Nationalbewegung vielleicht gerne haben möchte, stand die „Istorija Rusov“ dem russländischen Imperium und vor allem seinem Herrscher jedoch ambivalent gegenüber, nicht so aber etwa dempolnischen Erbfeind.

Die zweite Hälfte der Monographie gleicht einer spannenden Detektiv-Geschichte. Auf der Basis inhaltlicher und sprachlicher Indizien des Textes grenzt Plokhy den Kreis derVerdächtigen‘ immer weiter ein, die für die Autorschaft der „Istorija Rusov“ in Frage kommen. Zwar kann auch Plokhy keine Einzelperson der Urheberschaft überführen. Überzeugend breitet er jedoch die soziale, geographische und historische Genealogie der Schrift aus und zieht vor diesem Hintergrund eine kollektive Autorschaft in Betracht. Jedenfallsso sein Schlussist die Urheberschaft im Kreise einiger weniger, sozial und familiär eng miteinander verbundener wichtiger Repräsentanten kosakischer Notabelnfamilien der Region Starodub zu suchen, die nota bene heute Teil der Russländischen Föderation ist. Die „Istorija Rusov“ ist dabei einegentry version of the Ukrainian past(S. 338). Verfasst wurde sie um oder kurz vor 1818, womit sie sich zeitlich unmittelbar einordnet in die Hrochsche Phase A der ukrainischen Nationalbewegung. Der Kreis der Urheber des Textes war bestrebt, durch den Nachweis der rühmlichen Geschichte ihrer Gemeinschaft den eigenen sozialen Status abzusichern. Die Nachkommen ehemaliger Kosakenoffiziere kämpften darum, innerhalb des Russländischen Reiches als Angehörige des privilegierten Adelsstandes anerkannt zu werden. Denn dieser soziale Status war unmittelbar bedroht wegen der Überprüfung der Adelstitel durch das Heroldsamt der Reichsverwaltung. Zwar interpretierten nachfolgende Generationen die „Istorija Rusov“ in einem nationalukrainischen Sinne der Abgrenzung von Russland, und die Schrift begründete den ukrainischen nationalen Mythos des Kosakentums. Doch die Intentionen der Autoren des Textes waren noch nicht national ausgerichtet, sondern sie verstanden sich im Gegenteil als Teil des Russländischen Reiches, in dessen soziale Hierarchie sie sich integrieren wollten. So verfassten sie den Text auf Russisch, dessen kulturelle Bedeutung im Hetmanat auf dem Vormarsch warin einem Russisch zugleich, das stark von der ukrainischen Umgangssprache der Region beeinflusst war. Auf der anderen Seite legte die „Istorija Rusov“ die Grundlage eines nationalen historischen Narrativs, das die Nation mit einer ethnischen Gruppe identifizierte und von anderen abgrenzte.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Serhii Plokhy: The Cossack Myth. History and Nationhood in the Age of Empires. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2012. XV, 386 S., 13 Abb., 4 Ktn. = New Studies in European History. ISBN: 978-1-107-02210-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Plokhy_Cossack_Myth.html (Datum des Seitenbesuchs)

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