Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 5 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Anna Grześkowiak-Krwawicz: Queen Liberty. The Concept of Freedom in the Polish-Lithuanian Commonwealth. Translated from Polish by Daniel J. Sax. Leiden [etc.]: Brill, 2012. 135 S. = Studies in Central European Histories, 56. ISBN: 978-90-04-23121-4.

Neu ist die Erkenntnis nicht, dass die Sieger Geschichte schreiben. Das polnisch-litauische Vielvölkerreich gehört ohne Zweifel zu denVerlierern‘ der Geschichte: Ende des 18. Jahrhunderts verschwand es definitiv von der politischen Landkarte Europas. Auch in diesem Falle verhielt es sich so, dass die siegreichen Teilungsmächte Polen-Litauens die historische Deutungshoheit über dieses Geschehen an sich rissen. Fortan versuchten sie, den politischen Untergang primär als selbstverschuldet darzustellen: als Folge derpolnischen Anarchie, die die umgebenden Länder gleichsam zum Eingreifen gezwungen habe. Diese parteiische Bewertung desadelsdemokratischen“ politischen Systems Polen-Litauens hallt bis in Betrachtungen jüngeren Datums zu Polen-Litauen nach. Die Adelsdemokratie erscheint seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Umfeld absolutistischer Staaten zunehmend anachronistisch und nicht mehr funktionstüchtig. Immerhin könnte man einwenden, dass sich die Adelsdemokratie nach dem Schock der ersten Teilung dank derdemokratischen‘ Konkurrenz verschiedener politischer Kräfte als aus dem Innern heraus reformfähig erwies. Dieser Reformprozess mündete in die Mai-Verfassung von 1791, was den Teilungswillen der umgebenden absolutistischen Staaten natürlich nur bekräftigte.

Das mit 120 Textseiten schmal bemessene Bändchen von Anna Grześkowiak-Krwawicz, Professorin an der Universität Warschau und am Institut für Literaturstudien der Polnischen Akademie der Wissenschaften, versucht ganz in diesem Sinne eine Ehrenrettung der polnisch-litauischen Adelsdemokratie. Sie untersucht den Freiheitsbegriff, der ihrem politischen System und dem Selbstverständnis seiner adeligen Trägerschicht zugrunde lag.

Um einen Kritikpunkt gleich vorweg zu nehmen: Ein struktureller Mangel der Monographie ist wohl dem geringen Umfang geschuldet, oder dem Konzept der Herausgeber, das fachwissenschaftliche Ergebnisse zur deutschen und mitteleuropäischen Geschichte einem englischsprachigen Publikum vermitteln will, dem der direkte Zugang sprachlich verwehrt ist. Denn der wissenschaftliche Apparat der Abhandlung ist (zu) gering gehalten. Er beschränkt sich praktisch auf den Nachweisdies immerhinder im Wortlaut zitierten zeitgenössischen Quellen und Abhandlungen. Für eine Ideen- und Begriffsgeschichte wäre hier vermutlich ein Mehr an Verweisen auch tatsächlich mehr gewesen, denn auch die knappe Bibliographie schafft diesbezüglich keine Abhilfe. Die mit 515 Seiten wesentlich umfangreichere, im Titel gleichlautende, aber nur auf Polnisch verfügbare Monographie (Grześkowiak-Krwawicz, Anna: Regina Libertas. Wolność w polskiej myśli politycznej XVIII wieku. Gdańsk: Słowo / obraz terytoria 2006 [= Idee i historia].) derselben Autorin bietet hier vermutlich mehr weiterführenden Tiefgang. (Mit 99 EUR ist zudem der Preis, den der Brill-Verlag für 135 bedruckte Seiten festgelegt hat, überrissen, um nicht zu sagen unverschämt.)

Im ersten Kapitel skizziert Grześkowiak-Krwawicz die Entwicklung des politischen Systems der Adelsrepublik und deren gesellschaftlichen Umfelds vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Sowohl mit Blick auf die sozialen als auch auf die konfessionellen Zustände Polen-Litauens zeichnet die Autorin insgesamt ein etwas gar idyllisches Bild. So spricht sie vonquite decent conditions(S. 13), die für die Bauernschaft bis ins frühe 17. Jahrhundert gegolten haben sollenim Zeitalter der Durchsetzung der adeligen Gutswirtschaft und zweiten Leibeigenschaft! Und die zunehmende konfessionelle Intoleranz der katholischen Adelsnation im Zuge des Voranschreitens der Gegenreformation ist nicht wirklich Thema. So erscheint die staatsbedrohende Krise der Mitte des 17. Jahrhunderts bei Grześkowiak-Krwawicz in erster Linie als das Werk intervenierender externer Mächte. Dass diese auch ein Resultat sich verschärfender innerer konfessioneller Konflikte waretwa im Rahmen der Herausforderung, die zahlreiche orthodoxe Bevölkerung in das Staatswesen einzubindenreflektiert die Autorin nicht weiter.

Die Stärken der Monographie liegen in den nachfolgenden Ausführungen. Zunächst legt die Autorin dar, welches Verständnis von Freiheit für die Angehörigen der polnischen Adelsnation konstitutiv war. Unter Berufung auf zeitgenössische Autoren und deren Texte filtert sie feinsinnig deren Freiheitsbegriff heraus. Dieses Unterfangen ist nicht einfach, da sich Grześkowiak-Krwawicz dazu nicht auf politiktheoretische Schriften stützen kann, sondern auf politische Publizistik zurückgreifen muss, die im Umfeld konkreter politischer Ereignisse entstand. Umso mehr bürgt diese Quellenbasis dafür, dass der so destillierte Freiheitsbegriff repräsentativ für breite Schichten der polnisch-litauischen Adelsgesellschaft war.

Dieserauf den Adel beschränkteFreiheitsbegriff war der antiken römischen, republikanischen Gedankenwelt verpflichtet: Freiheit bedeutete das Rechtund die Pflicht, die im Laufe der Zeit in den Hintergrund geriet, an den Staatsgeschäften aktiv mitzuwirken und die Gesetzgebung zu gestalten. Es handelte sich also nicht etwa um eine liberale Vorstellung von Freiheit, das Individuum müsse möglichst ungehindert sein persönliches Glück verfolgen können. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor dem Hintergrund des innerstaatlichen Reformbedarfs, öffnete sich die politische Diskussion, die bisher im adelsrepublikanischen Freiheitsverständnis gefangen war, teilweise und mit Mühe. Ein offenerer, naturrechtlicher Freiheitsbegriff trat ins Blickfeld der polnisch-litauischen Publizistik. Diese schickte sich zögerlich an, zur Stärkung des geschwächten Staates neben dem Adel auch andere gesellschaftliche Schichten als Träger persönlicher und politischer Freiheitsrechte zu akzeptieren.

Die polnisch-litauische monarchia mixta mit einem monarchischen (König), einem aristokratischen (Senat) und vor allem dem demokratischen Pfeiler des Reichstags, der dieNationrepräsentierte, galt für die Aufrechterhaltung dieser republikanischen Freiheit als geeignetste Staatsform. Deren zentrale Elemente waren: vom Reichstag, der sich aus den Adelsabgesandten der regionalen Landtage zusammensetzte, erlassene und allseits hoch zu haltende Gesetze, die die adelige Freiheit schützen, aber auch in Schranken weisen sollten; das Recht auf freie Königswahl durch den Adel; das berüchtigte liberum veto und die adelige Redefreiheit. Das Gesetz und nicht der König waren die Instanz, der alle gehorchen mussten und die den einzelnen Adeligen nicht nur vor der Willkür des Monarchen, sondern auch vor derjenigen seiner Standesgenossen schützen sollte: Lex regnat, non rex (S. 44). Das liberum veto, welches die Adelsrepublik seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mehr oder weniger politisch lahm legte, war dabei letztlich nichts Anderes als eine ins Extreme gedachte, individualisierte Anwendung des römisch-rechtlichen Grundsatzes nihil de nos sine nobisnihil de me sine me (S. 56).

Da, wo Grześkowiak-Krwawicz das von den politischen Zeitgenossen selbst sehr kontrovers und differenziert diskutierte politische Wertesystem der polnisch-litauischen Adelsrepublik freilegt, entwickelt ihr Buch die größte Faszination. Sie behandelt dort nämlich nicht nur ein historisches Phänomen. Die Auseinandersetzung mit dem adelsdemokratischen Freiheitsbegriffaber auch seine Degeneration und die Auswüchse zur Anarchieregt am Beispiel Polen-Litauens durchaus auch zur bereichernden Reflexion über unsere politische Gegenwart an.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Anna Grześkowiak-Krwawicz: Queen Liberty. The Concept of Freedom in the Polish-Lithuanian Commonwealth. Translated from Polish by Daniel J. Sax. Leiden [etc.]: Brill, 2012. 135 S. = Studies in Central European Histories, 56. ISBN: 978-90-04-23121-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Grzeskowiak-Krwawicz_Queen_Liberty.html (Datum des Seitenbesuchs)

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