Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe v. Werdt

 

David Frick: Kith, Kin, and Neighbors. Communities and Confessions in Seventeenth-Century Wilno. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2013, XXIV, 529 S., 13 Ktn., 7 Abb., 4 Graph., 1 tab. ISBN 978-0-8014-5128-7.

Die bisherige Forscherkarriere von David Frick bewegte sich zu einem wesentlichen Teil in den Gefilden der vielfältigen Konfessionslandschaften der östlichen Hälfte Polen-Litauens des 16. und 17. Jahrhunderts (Ruthenien). Das gilt auch für die vorliegende Publikation. Sie thematisiert die überkonfessionellen Netzwerke in der Stadt Wilna während des 17. Jahrhunderts. Frick wertet mit seiner Monographie einen reichhaltigen Quellenfundus aus, den er vor Jahren bereits in einer entsprechenden Edition erschlossen und kommentiert hat (David A. Frick: Wilnianie. Żywoty siedemnastowieczne. Warszawa, 2008. = Bibliotheca Europae Orientalis Fontes, 2).

Der Autor nimmt die Leserinnen und Leser mit auf eine Wanderung durch das Wilna des 17. Jahrhunderts. Er rekonstruiert minutiös die konfessionelle Topographie der Stadt. Dies geschieht auf den Spuren des königlichen Quartiermeisters aus den 1630er Jahren und auf der Grundlage von zahlreichen weiteren, wegen der Stadtbrände und der kriegerischen Verheerungen des 17. Jahrhunderts häufig nur fragmentarischen Quellenbeständen (Revisionsberichte, vor allem Gerichtsakten, Notariatsdokumente, Testamente, zeitgenössische Konfessionspolemik usw.). Frick begleitet die Wilnaer durch die verschiedenen Lebensetappen von der Geburt bis zum Tod und zeichnet die interkonfessionellen personellen Netzwerke nach, in denen sie sich bewegten.

Innerhalb der Stadtmauern bewohnte jede der Konfessionsgemeinschaften historisch bedingt bestimmte Kernzonen, wo sich ihre Mitglieder rund um die jeweiligen Gottes- und Gebetshäuser konzentrierten. Doch selbst im Falle der jüdischen Bevölkerung bildete sich kein konfessionell geschlossenes Wohnquartier oder auch nur eine homogene jüdische Straße heraus: Es gab im Wilna des 17. Jahrhunderts keine ethno-religiösen Ghettos. Einzig die Tataren – und seit 1640 auch die Calvinisten – waren, was ihre Wohnsitze, nicht aber den Arbeitsalltag anbelangte, in die Suburbien verwiesen. Trotz der verbreiteten Durchmischung scheint allerdings die jüdische Bevölkerung in den angestammten ruthenischen Wohngebieten nicht präsent gewesen zu sein.

Faszinierend ist, wie Frick verschiedene Quellenstücke zu einem Bild zusammenfügt, das uns Einblick in die Wohnstuben der Einwohner Wilnas gibt. Buchstäblich Bettstatt an Bettstatt lebten die Angehörigen aller christlichen Konfessionen, aber auch der jüdischen Religion in den einzelnen Wohnhäusern zusammen. Die Konflikte, die sich dabei ergaben, waren normaler nachbarschaftlicher Natur ohne primär religiösen Hintergrund.

Das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen und Konfessionsethnien innerhalb der Stadt bedeutete für die Abstimmung der unterschiedlich getakteten religiös bestimmten Kalender eine Herausforderung. Zwar galt der gregorianische Kalender der römisch-katholischen Kirche als maßgebend, doch war aus rein alltagspraktischen Gründen auch Rücksicht zu nehmen auf die Strukturierung der Zeit in den anderen Gemeinschaften. Diskussionen um Ladenöffnungszeiten, das Respektieren von Feiertagen, die Berücksichtigung von Fastenzeiten durch die andersreligiösen Nachbarn, die Wegführung von Prozessionen durch die Gassen der Stadt, das Läuten der zahlreichen Glocken oder die Stimme des jüdischen beziehungsweise tatarischen liturgischen Ausrufers erinnerten die Wilnaer Bevölkerung gleichsam stündlich an ihr multireligiöses Umfeld. Prozessionen und hohe religiöse Feiertage gaben dabei besonders Anlass zu interreligiösen Konflikten, die sich meist in Hohn und Spott äußerten.

Die Ausführungen zum schriftlichen und mündlichen Sprachgebrauch, zu den Taufpatenschaften, Ausbildungswegen und zum Heiratsverhalten illustrieren, wie die Bewohner Wilnas in allen Lebenslagen transkulturelle Erfahrungen machten und sich sogar zu einem bedeutenden Prozentsatz über die Grenzen der verschiedenen christlichen Gemeinden hinweg vernetzten: Räumliche Nachbarschaft, ständische Zusammengehörigkeit und das Streben nach sozialem Aufstieg ließen konfessionelle Bindungen in den Hintergrund treten. Dies galt selbst für das jüdische Wilna, das vielen christlichen Gesellen in spezialisierten Handwerksberufen eine kompetente Ausbildung bot. Trotzdem blieben in der Regel die gleichkonfessionellen Nachbarschaftsbekanntschaften für die Heiratskreise bestimmend. Immerhin scheinen überkonfessionelle kalvinistisch-lutherische und orthodox-unierte Heiratsverbindungen leichter zustande gekommen zu sein als andere.

Im wirtschaftlichen Alltag der Stadt etablierten sich transkonfessionelle Gemeinschaften besonders erfolgreich: dank konfessionsparitätischem „power sharing across the confessions and ethnicities“ (S. 272). Dieses galt analog zu den Gremien des städtischen Magistrats auch in den Ältestengremien der multikonfessionell zusammengesetzten Hand­werkerinnungen. Die verbindenden wirtschaftlichen Interessen gegen das nicht-zünftische Handwerk konnten nicht zuletzt dank Kompromissvereinbarungen über die religiös-bruderschaftlichen Verpflichtungen der Zunftmitglieder transkonfessionell gebündelt werden.

Selbst im Angesicht des Todes legten die Wilnaer Bürger trotz der Rückbesinnung auf die Ursprünge ihres Glaubens einen gewissen transreligiösen Synkretismus an den Tag: etwa in der Art, wie sie ihre Testamente verfassten, Kirchen und Spitäler verschiedener Konfessionen mit Schenkungen bedachten. Die im Laufe des Lebens aufgebauten Netzwerke und die Verwurzelung in den Straßen-Nachbarschaften behaupteten sich letztlich auch in der letzten Phase des Lebens gegenüber kirchlichen Vorschriften. Besonders überraschend zeigte sich dies bei der Überwindung des sonst eher ausgeprägten Grabens zwischen Orthodoxen und Unierten.

Die sehr quellennahen, vielfältiges Material ausführlich ausbreitenden Ausführungen von David Frick führen zum Schluss, dass das multikonfessionelle Wilna im 17. Jahrhundert tatsächlich eine Sonderstellung innerhalb Europas einnahm. Diese lag einerseits in der besonderen historischen Tradition des Großfürstentums Litauen begründet, wo Orthodoxie und Katholizismus seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert mehr oder weniger gleichberechtigt koexistierten – anders als beispielsweise in Lemberg. Anderseits charakterisierte Wilna eine Vielfalt an Religionsgemeinschaften, die bereits die Aufmerksamkeit der zeitgenössischen Reisenden hervorgerufen hatte. Orthodoxe, Unierte, Katholiken, Lutheraner, Calvinisten, Juden, Tataren und Karäer lebten in der Stadt Zimmer an Zimmer, Haus an Haus, Straße an Straße oder teilten zumindest den städtischen Alltag. Sie tolerierten sich (gezwungenermaßen) gegenseitig, ohne dass dies Toleranz und schon gar nicht religiöse Indifferenz bedeutet hätte.

Diese Vielfalt war nicht konfliktfrei. So boten insbesondere die hohen Zeiten im dominierenden katholischen Feiertags- und Fastnachtskalender immer wieder Anlass zu Zusammenstößen. Diese beschränkten sich jedoch in aller Regel auf die Ebene verbaler Verhöhnung und Gewalt – und sie entzündeten sich häufig am Auftreten der in der Stadt als fremdes Element empfundenen (jesuitischen) Studentenschaft. Zu eng waren die verschiedenen konfessionellen (christlichen) Gemeinschaften untereinander über persönliche Netzwerke verwoben, zu dicht die alltägliche Nachbarschaft zwischen verschiedenen Religionen, als dass man sich, von Ausnahmesituationen abgesehen, zu handgreiflicher Gewalt hätte hinreißen lassen. Die ausgeprägte dezentrale Rechtskultur der polnisch-litauischen Adelsrepublik bot den Wilnaer Konfessionsgemeinschaften überdies ein Vorbild und institutionalisierte Strukturen, ihre Konflikte vor Gerichten auszutragen. Was dabei deutlich hervortritt: Selbst wenn man den Nachbarn als Andersgläubigen geringer schätzte, so achtete man diesen doch immer als Mitglied der städtischen Gesellschaft von Wilna.

Christophe v. Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe v. Werdt über: David Frick: Kith, Kin, and Neighbors. Communities and Confessions in Seventeenth-Century Wilno. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2013, XXIV, 529 S., 13 Ktn., 7 Abb., 4 Graph., 1 tab. ISBN 978-0-8014-5128-7., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Frick_Kit_Kith_and_Neighbors.html (Datum des Seitenbesuchs)

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