Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Erich Donnert: Das altostslavische Großreich Kiev. Gesellschaft, Staat, Kultur, Kunst und Literatur vom 9. Jahrhundert bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2012. 234 S., 54 Abb. ISBN: 978-3-631-63248-2.

Bei der anzuzeigenden Monographie handelt es sich um einerevidierte Neuauflage(S. 9) des Werks, welches Erich Donnert erstmals 1983 (in zweiter Auflage 1988) veröffentlicht hat. Dieses erschien seinerzeit unter dem TitelDas Kiewer Russland. Kultur und Geistesleben vom 9. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert“ in Leipzig. Die Transformation des Haupttitels und die daraus sich ableitende Neubezeichnung des historischen Interessenobjektes im Innern des Buches scheint zugleich die tiefgreifendste Revision zwischen den Ausgaben von 1983 und 2012 zu sein:  War 1983 noch das Kiewer Russland Gegenstand der Abhandlung, so ist es nun das altostlsavische Großreich Kiev; und wenn Donnert 1983 vonRussland,Russen,russischund selten differenzierter vomKiewer Staatoder vomKiewer Rusreichschriebund damit gar nicht ungewöhnlich dem großrussischen Interpretationsmuster ostslavischer Geschichte verpflichtet war,  so  benutzt er nun die BegriffeRuś,Kiever Reich,Kiever Staat,altostslavisch,Ruśvolk.

Explizit weist Donnert in der Einleitung darauf hin, dass das Kiever Reich als mittelalterlicherAusgangspunktrussischer, aber eben gleichberechtigt auch weißrussischer [sic!] und ukrainischer Geschichte zu gelten habe. Die Anpassung der Terminologie ist dieser Erkenntnis geschuldet. Doch scheint das Verständnis für die Vielgestaltigkeit der Traditionen, die sich auf die Kiever Rusbeziehen, bei Donnert nicht allzu ausgeprägt zu sein. Dies wird etwa beim kurzen Abschnitt zum Fürstentum Halytsch-Wolhynien deutlich. Teilweise versucht der Autor dort neben der russischen auch die ukrainische Namensform der Städte anzugeben, was jedoch zumindest nach den Regeln der wissenschaftlichen Transliteration misslingt (etwaGalič (Halič)statt richtigHalyč). Oder er bezeichnet die Stadt Lemberg gar abenteuerlich alsLvov (Łwów [sic!])“, dabei die ukrainische FormLviv“ – bewusst?auslassend.

Auch wenn Donnert die Bibliographie mit ein wenig neuer Literatur aufdatiert hat, so scheinen deren Forschungsergebnisse höchstens marginal in die Darstellung eingeflossen zu sein. Textlich ist die Neuauflage nach einem kursorischen Vergleich überwiegend identisch mit der Ausgabe von 1983. Dies ist bei einer revidierten Neuauflage nicht anders zu erwarten. Aber es stört angesichts des Epochenumbruchs, der zwischen 1983 und 2012 stattfand, dann eben doch. So atmen viele Sätze, gegenüber der Ausgabe von 1983 gänzlich unrevidiert, weiterhin den Geist der achtziger Jahrebeispielsweise im nachfolgenden Zitat jenen eines spätsozialistischen Staatsnationalismus:Durch ihre monumentale Pracht verkörperten die Bauten die schöpferische Kraft des Volkes, den Triumph des Staates und der Orthodoxie.(S. 113; kursiv CvW) Oder wenn Donnert beispielsweise die Tatarenherrschaft wie bereits 1983 plakativ alstrostlosund alsfremdländisches Schreckensregimebeschreibt (S. 193), dann sind neuere Forschungsergebnisse jedenfalls nicht verarbeitet worden.

Für die revidierte Neuauflage musste aus Kostengründen auf die umfangreiche Bebilderung im Textteil verzichtet werden. Ein Teil der Illustrationen wurde in den Anhang aufgenommen. In Kombination mit den inhaltlichen Vorbehalten führt diese Einschränkung dazu, dass der Rezensent eigentlich raten möchte, gleich auf die revidierte Neuauflage zu verzichten und auf die Ausgaben von 1983 oder 1988 zurückzugreifen. Immerhin kommt man dort in den Genuss des Bildmaterials und verfällt nicht der Illusion, eine Monographie zur Kiever Rus auf dem neuesten Forschungsstand in den Händen zu halten, sondern eben einen Titel, der 1983 unter den Rahmenbedingungen der DDR-Geschichtswissenschaft verfasst werden musste und unter diesen Vorzeichen durchaus seine Verdienste hat. Diese bestehen zuvorderst darin, dass Donnert die chronikalischen und literarischen Quellen zur Kiever Rus ausführlich direkt sprechen lässt, wobei der Adressatenkreis seiner Monographie schon 1983 nicht ein wissenschaftlicher war.

Christophe von Werdt, Bern

 

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Erich Donnert: Das altostslavische Großreich Kiev. Gesellschaft, Staat, Kultur, Kunst und Literatur vom 9. Jahrhundert bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2012. 234 S., 54 Abb. ISBN: 978-3-631-63248-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Donnert_Das_altostslavische_Grossreich_Kiev.html (Datum des Seitenbesuchs)

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