Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Tarik Cyril Amar: The Paradox of Ukrainian Lviv. A Borderland City between Stalinists, Nazis, and Nationalists. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2015. XI, 356 S., 9 Abb. ISBN: 978-0-8014-5391-5.

Die Monographie von Tarik Amar behandelt einen Abschnitt aus der Geschichte der Stadt L’viv/Lemberg, in der sich deren Gesicht tiefgreifend verändert hat. Durch die gewaltsamen Eingriffe in die Bevölkerungsstruktur und das Modernisierungsprojekt der Sowjetisierung wandelte sich L’viv im Zeitraum zwischen dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und den Nachkriegsjahrzehnten erstmals zu einer recht eigentlich ukrainischen Stadt – und dies nicht nur im demographischen Sinne. Demzufolge lautet die Hauptthese von Amar, dass erst das Zusammenspiel von demographischer Ukrainisierung und Homogenisierung im Verbund mit der Sowjetisierung und Industrialisierung unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten aus L’viv jene Stadt gemacht habe, die sich bis in die post-sowjetische Zeit von anderen Regionen der Ukraine abhebt: „The intentional making of the local – in the form of a distinct but transitory type of not-yet-Sovietized western borderland Ukrainian – had the unintended effect of shaping and solidifying a special and persistent Western Ukrainian identity […].“ (S. 19)

Amar lässt seine Untersuchung einem chronologischen Faden folgen. Im ersten Kapitel zeichnet er die multikulturelle Geschichte Lembergs nach, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Es ist ihm ein Anliegen zu unterstreichen, dass die Stadt bis zum Zweiten Weltkrieg trotz aller nationalen Spannungen einen multiethnischen Charakter bewahrte.

Die sowjetische Besetzung Lembergs in den Jahren 19391941 brachte den Zusammenstoß verschiedener Kulturen. Die sowjetischen Eroberer der Stadt zerstörten das gesellschaftliche Gefüge der Stadt: durch die Deportation verschiedener ‚feindlicher‘ Bevölkerungssegmente, die Liquidierung privatwirtschaftlicher Strukturen, den Import neuer Eliten aus dem Osten der Ukraine und die Sowjetisierung von Kultur und Bildung. Während sie zumindest auf propagandistischer Ebene davon überzeugt waren, damit die zivilisatorische Rolle des Befreiers zu spielen, begegneten ihnen Lemberger Polen, Juden, aber auch Ukrainer skeptisch und in der Überzeugung, den sowjetischen Besatzern ganz im Gegenteil zivilisatorisch überlegen zu sein.

Die erste sowjetische Besetzung Lembergs tastete allerdings den multiethnischen Charakter der Stadt nicht grundsätzlich an. Das deutsche Regime, das sich im Sommer 1941 in Lemberg installierte, hob sich vom vorangehenden weder durch weniger Korruption der Kader noch durch bessere Organisation ab. Auch die Deutschen – wie vor ihnen die Sowjets – betrachteten die Stadt als einen Vorposten für ihr Zivilisationsprojekt. Der fundamentale Unterschied gegenüber der sowjetischen Praxis bestand jedoch im Vernichtungsfeldzug, den die deutschen Okkupanten gegenüber der jüdischen Bevölkerung umsetzten. Die demographische Zusammensetzung verschob sich unwiederbringlich – und zwar zugunsten der Ukrainer. Amar schildert in diesem Kapitel ausführlich die exterminatorische Judenverfolgung. Insbesondere geht er auch auf die Kollaboration und Involvierung der Ukrainer mit den deutschen Besatzern ein. Kaum weiter thematisiert bleiben in diesem Kapitel allerdings die ukrainisch-polnischen und polnisch-deutschen Beziehungen in Lemberg während der Kriegsjahre.

Die Monographie entwickelt ihre Stärken in jenen Teilen, die die Sowjetisierung von L’viv seit dem Sommer 1944 schildern. Hier stützt sich Amar besonders intensiv auf Archivquellen ab. Und es gelingt ihm, die Atmosphäre der völligen Umwälzung nachzuzeichnen, die Lemberg in den Jahren nach dem Krieg geprägt haben muss. Da war erstens die mit der polnischen Volksrepublik vereinbarte Zwangsaussiedlung der polnischen Bevölkerung. Sie beraubte Lemberg nach den Juden eines weiteren, für die Geschichte und Kultur der Stadt konstitutiven Elements. Für die zurückgekehrte Sowjetmacht jedoch mindestens so suspekt wie die Polen waren die lokalen Ukrainer, die man des Nationalismus und der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigte – ein Stereotyp, das sich bis heute hält. So waren es Ukrainer und Russen aus dem Osten, die in großer Zahl und motiviert von den sowjetischen Behörden in die Stadt zuzogen und wichtige Positionen in Partei, Politik, Wirtschaft und im Bildungswesen Lembergs – sowie den begehrten Wohnraum in der Stadt – mehrheitlich besetzten. Aus dem polnisch-jüdisch-ukrainischen Lemberg der Vorkriegszeit wurde durch den Krieg und die Nachkriegszeit das ukrainisch-sowjetische L’vov.

Eindrücklich zeichnet Amar die Sowjetisierung Lembergs nach, wie sie unter dem Primat der Industrialisierung vorangetrieben wurde. Begleitet wurde sie von der Kollektivierung der Landwirtschaft im Umland. Beide Maßnahmen sollten auch der definitiven Ausschaltung des ukrainischen Nationalismus dienen. Lemberg wandelte sich im Nachkriegsjahrzehnt von Grund auf. Es entwickelte sich zu einem Zentrum der sowjetischen Maschinen- und Konsumgüterindustrie. Die Migration aus dem Umland in die Stadt, aber auch der massive Zuzug von Fachkräften aus dem sowjetischen Osten bildeten das Herzstück dieses Sowjetisierungsprojekts, das von einem brutalen Krieg gegen nationalistische „Banditen“ (S. 195) auf dem westukrainischen Dorf begleitet wurde. Die Zugezogenen aus dem sowjetischen Osten scheinen dabei in den Augen der Partei als Avantgarde des Fortschritts noch lange Zeit gegenüber den Lokalen, die man der bäuerlichen Rückständigkeit oder der Neigung zum Nationalismus zieh, als das vertrauenswürdigere Bauelement des Sowjetstaates in der Westukraine eingestuft worden zu sein.

Ein eigenes Kapitel widmet der Autor dem sowjetischen Kampf gegen die lokale „Intelligenz“ und gegen den „Nationalismus“. Dabei war es insbesondere Nikita Chruščev, der als Vertreter des Kiewer Parteiapparates Maßnahmen gegen den westukrainischen Nationalismus empfahl, die mit den Deportationen und dem brutalen Vorgehen im Bandenkrieg auf dem Land manche Ähnlichkeiten mit dem Terrorregime der deutschen Besatzungstruppen während des Weltkriegs hatte. Letztendlich blieb das Misstrauen gegenüber der ideologischen Verlässlichkeit der Westukrainer jedoch auch später noch bestehen.

Leider werden die ausgewerteten Archivbestände im Hinblick auf ihre Provenienz nirgends detailliert aufgeschlüsselt. Dies ist eine Schwäche der Studie, da diese Tatsache es verunmöglicht, die inhaltliche Aussage einer Quelle kritisch zu bewerten. So scheint sich Amar vorwiegend auf Archivbestände von Staat und Partei abzustützen, was sicherlich einer gewissen Distanz bedürfte – und eben auch nur eine der möglichen Perspektivierungen darstellt. Die Schwerpunkte, die Amar in seiner stadtgeschichtlichen Mikro-Studie setzt, sind zudem nicht immer einsichtig. Er scheint zuweilen bei den Akzenten mehr von den konsultierten parteioffiziellen Archivquellen getrieben als von einer durch eine Fragestellung geleiteten Gesamtsicht.

Letztlich kommt Amar in den Schlussfolgerungen auch nicht wirklich weiter als bisherige Erklärungsansätze, so wenn er schreibt, die spezielle Rolle, die die Westukraine in den Jahrzehnten seit 1989 gespielt habe, hänge mit der spezifischen Form der Sowjetisierung zusammen: „In the end, Lviv and Soviet western Ukraine did turn out to be special.“ (S. 322) Worin allerdings das Spezielle, zum Beispiel im Vergleich mit dem Westen von Belarus, bestand, wird nicht deutlich. Dies alles mindert jedoch nicht den großen Wert dieser Lokalstudie zu Prozessen der Sowjetisierung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Tarik Cyril Amar: The Paradox of Ukrainian Lviv. A Borderland City between Stalinists, Nazis, and Nationalists. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2015. XI, 356 S., 9 Abb. ISBN: 978-0-8014-5391-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Amar_The_Paradox_of_Ukrainian_Lviv.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2018 by Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Christophe von Werdt. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.