Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfram von Scheliha

 

The Crimean Khanate between East and West (15th–18th Century). Ed. by Denise Klein. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 241 S., 1 Abb. = Forschungen zur ost­europäischen Geschichte, 78. ISBN: 978-3-447-06705-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Das Krim-Khanat (tat. Qırım Yurtu oder Qırım Hanlığı) wird in der Historiographie gewöhnlich als ein mächtepolitisches Anhängsel des Osmanischen Reichs angesehen, zumal zeitlich seine Eingliederung in das Russländische Imperium 1783 unter Katharina II. mit dem beginnenden Verfall des Osmanischen Reiches und dem Aufkommen derorientalischen Frageals Problem der europäischen Großmächtediplomatie zusammenfällt. Auch wenn das Krim-Khanat zu einem gewissen Grad tatsächlich vom osmanischen Sultan abhängig war, ist es in den letzten Jahren vermehrt auch als eigenständiger Akteur zum Gegenstand der Forschung geworden. Mit dem von der Konstanzer Orientalistin Denise Klein vorgelegten Sammelband, der Beiträge einer 2008 in München abgehaltenen Konferenz in sich vereint, wird zum einen die Vielschichtigkeit der Geschichte des Krim-Khanats, zum anderen das Desiderat einer intensiveren Erforschung dieser Geschichte im Kontext der osteuropäischen, aber auch der weiteren europäischen Geschichte deutlich.

Die zwölf englisch- und deutschsprachigen Beiträge präsentiert Denise Klein in vier Sektionen. Im AbschnittThe Steppe Legacygeht István Vásáry zunächst der Entstehungsgeschichte des Krim-Khanats und den Auseinandersetzungen mit den anderen Nachfolge-Khanaten derGoldenen Horde(Ulus J̌uči) nach. Vásáry weist auf die Legitimität der Herrschaft in den Nachfolge-Khanaten hin, da sich alle Dynastien auf eine dschingisidische Abstammung berufen konnten. Insofern ist das von der Herausgeberin in der Einleitung verwandte Bild einertranslatio imperii(S. 7) etwas unglücklich, da dieses dem christlich-europäischen Denken entstammende Konzept von einem Exklusivitätsanspruch in der Reichsnachfolge ausgeht, die es in dieser Form bei den Dschingisiden nicht gegeben hat. Im anschließenden Beitrag erörtert Mária Ivanics am Beispiel der einflussreichen Sippe der Şirin die Entstehung des Vier-Bey-Systems, das die Macht des Khans der Krim bedeutend beschränkte und die Entstehung einer Alleinherrschaft wie im Osmanischen Reich verhinderte. Ivanics vergleicht dieses System auch mit der Entwicklung in den asiatischen Khanaten und kommt zu dem Ergebnis, dass es nicht auf ein mongolisches Vorbild zurückgeht, sondern mit einer spezifischen Konstellation bei den Sippen zusammenhängt, die eine bestimmte dschingisidische Dynastie stützten.

Die vier Beiträge des zweiten Abschnitts beleuchten Fragen der Außenpolitik. Dariusz Kołodziejczyk korrigiert die traditionelle Deutung des Krim-Khanats alsParasitenstaatund charakterisiert es demgegenüber als einen wichtigen Gleichgewichtsfaktor in Osteuropa, denn es habe sich im Ringen zwischen Polen-Litauen und dem Moskauer Reich bzw. Russland immer auf die Seite des jeweils Schwächeren gestellt, um eine Veränderung des mächtepolitischen Status Quo zu verhindern. Als ein Beispiel für diese Strategie untersucht Kirill Kočegarov die Politik des Krim-Khanats während der Moskauer Unruhen des Jahres 1682. Zar Fedor Alekseevič war zuvor gestorben, um seine Nachfolge rangen die Familien seiner Geschwister Ivan und Sofija sowie die seines Halbbruders Peter, begleitet von einem Aufstand der Strelitzen. Der polnische König Jan Sobieski versuchte mit Hilfe der Krim das 1667 an Moskau verlorene Territorium zurückzugewinnen, doch der Khan unterstützte lieber den Hetman der Zaporoger Kosaken. Diese zugleich gegen Polen und Russland gerichtete Maßnahme sollte die beiden Kontrahenten in Balance halten. Das Verhältnis des Krim-Khanats zum Osmanischen Reich lotet Sándor Popp mit Blick auf die Einsetzung der Khane durch den Sultan aus. Er kann dabei die zunehmende Abhängigkeit der krim-tatarischen Herrscher von der Hohen Pforte aufzeigen. Denn während im 16. Jahrhundert die Khane noch ihre Nachfolger selbst bestimmen konnten, vermochten sie es später nicht einmal mehr, ihren ersten Vertreter (ķaluġa) aus eigener Machtvollkommenheit zu ernennen. Den in den Beziehungen zum Krim-Khanat so bedeutsamen Komplex des Gefangenenfreikaufs widmet sich schließlich Gáspár Katko am Beispiel der 1657 in krim-tatarische Gefangenschaft geratenen Armee Transsylvaniens.

Der dritte Teil befasst sich mit Gesellschaft und Kultur des Khanats. Natalija Króli­kow­ska wertet die Hofregister (sicills) des Khans Murad Giray (1670–1683) im Hinblick auf die darin dokumentierten Kriminalfälle aus. Auch wenn die Erforschung des Rechtssystems des Krim-Khanats noch am Anfang steht, zeichnet sich ab, dass die Jurisdiktion über Kapitalverbrechen wie auch in anderen Staaten jener Zeit dem Herrscher vorbehalten blieb. Im zweiten Beitrag betrachtet Denise Klein die krim-tatarische und osmanische Geschichtsschreibung am Beispiel des Nogaj-Aufstandes der Jahre 1699–1701, der sich gegen den Frieden von Karlowitz und somit gegen den Khan und den Sultan richtete. Von dem Ereignis liegen sechs osmanische Berichte und ein tatarischer vor, die sich zum Teil erheblich voneinander unterscheiden. Aufgrund ihrer Analyse von Adressaten und Funktion der Texte kommt Klein zu einem differenzierten Ergebnis. Denn während die osmanischen Texte in erster Linie der (Selbst-)Legitimation der Eliten, der Bestätigung ihrer Politik und der von ihnen repräsentierten Ordnung dienten, richtete sich der krim-tatarische Bericht darüber hinaus an die breitere Bevölkerung und trug so auch zu einempolitischen und moralischen Diskurs in Krisenzeitenbei. Aus diesen Unterschieden folgert Klein, dass eine eigene krim-tatarische Kultur fortbestanden hat und eine vollständige Osmanisierung bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts noch nicht erfolgt war.

Die Beiträge des vierten Abschnitts behandeln den Blick von außen auf das Krim-Khanat. Stefan Albrecht erörtert den Quellenwert der „Tatariae descriptio“ des polnischen Gesandten Martinus Broniovius (Marcin Broniewski), der 1578 und 1579 die Krim bereiste. Albrecht arbeitet genretypische Einflüsse und Stereoptypen in Broniewskis Text heraus, kommt aber zu dem Ergebnis, dass der posthum in Köln veröffentlichte Bericht wertvolle eigene Beobachtungen des Autors enthält. Etwa hundert Jahre später entstand das Buch „Noord en Oost Tartarye“ des niederländischen Diplomaten und späteren Bürgermeisters von Amsterdam Nicolaas Witsen. Es handelt sich dabei um eine Chrestomathie, in der auf 22 Seiten auch Texte zur Krim einschließlich eines tatarischen Glossars dargereicht werden. Mikhail Kizilov gelingt es in seinem Beitrag, die Herkunft der einzelnen Texte dieses Abschnitts zu identifizieren und damit die Voraussetzung zur Beurteilung ihres Quellenwerts zu schaffen. Im Anschluss nimmt Christoph Augus­tynowicz einen aufschlussreichen Vergleich des Tatarenbildes in zwei sehr unterschiedlichen Quellen vor: dem Tagebuch des Priesters und Musikers Balthasar Kleinschroth, der 1683 vor den in Richtung Wien vorrückenden Tataren fliehen musste, und dem 1719–1720 erschienenen „Theatrum Ceremoniale“, das Protokolle von Empfangszeremonien krim-tatarischer Gesandtschaften an mehreren europäischen Höfen enthält. Beide Texte schreiben vorhandene Stereotype fort, spiegeln jedoch auch, wenn es zu konkreten Begegnungen kommt, eine stückweise Überwindung des Freund-Feind-Schemas und eine gewisse Normalität im gegenseitigen Kontakt wider. Protokollarisch sind die Krim-Tataren, wie Augustynowicz ausführt, tatsächlich als ein Anhängsel der Osmanen behandelt worden. Da dieser Befund der in der Einleitung aufgestellten Kernthese des Bandes entgegensteht, wäre eine weitere Problematisierung dieser Frage sicherlich wünschenswert gewesen. Im letzten Beitrag geht Kerstin S. Jobst den Visionen und der tatsächlichen Umsetzung der russischen Herrschaft über die Krim bis zur Wende zum 19. Jahrhundert nach. Sie folgt dabei dem von Stephen Greenblatt formulierten DreisatzEntzückungAneignungEntzauberungund stellt damit die Eingliederung der Krim in die Kontexte derNeuen Imperien-und der Kolonialismusforschung dar. Eine Entzauberung kann sie allerdings nicht konstatieren, denn die Krim gilt noch heute für viele Russen als einePerle des Imperiums“, wie die Ereignisse des Jahres 2014 erneut bestätigt haben.

Alle Beiträge sind durchweg sehr informativ und gut lesbar geschrieben. Viele basieren auf Archivquellen, einige tatarische Archivalien wurden erstmals für die Forschung fruchtbar gemacht. Dies führt noch einmal die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes vor Augen, denn die osteuropäische Geschichte mit ihrem traditionellen Fokus auf den slavischen Quellen stößt bei der Erforschung der turksprachigen Gebiete, die durchaus dem Geschichtsraum Osteuropa zuzurechnen sind, schnell an ihre Grenzen. Der vorliegende Band ist ein gelungenes Beispiel, wie dieses Manko zu überwinden ist. Allerdings hätte die Formulierung einer übergeordneten Fragestellung geholfen, die Texte untereinander stärker miteinander zu verknüpfen und dadurch eine größere inhaltliche Einheitlichkeit herzustellen. So stehen allgemeiner gefasste Themen, die auch für ein breiteres Fachpublikum von Interesse sind, neben Detailstudien, die wohl nur ein Spezialist goutieren wird. Gewöhnungsbedürftig ist die allerdings nicht konsequent angewandte Transliteration von kyr.хmit h anstelle des üblichen ch“ in deutschen bzw. kh in englischsprachigen Texten. Die Gründe dafür werden nicht näher erläutert, aber gerade bei der Krim-Thematik ist dies besonders problematisch, da eine Verwechslung mit ukr. г (transliteriert h) unvermeidlich ist. Dessen ungeachtet trägt der von Denise Klein herausgegebene Band zur Vermehrung unserer Kenntnisse von dem weithin unbekannten, aber dennoch bedeutenden Krim-Khanat bei, das immerhin über drei Jahrhunderte die Politik Osteuropas mitbestimmte. Das Buch sollte daher in keiner Institutsbibliothek zur osteuropäischen Geschichte fehlen.

Wolfram von Scheliha, Leipzig

Zitierweise: Wolfram von Scheliha über: The Crimean Khanate between East and West (15th–18th Century). Ed. by Denise Klein. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 241 S., 1 Abb. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 78. ISBN: 978-3-447-06705-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Scheliha_Klein_The_Crimean_Khanate.html (Datum des Seitenbesuchs)

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