Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfram von Scheliha

 

Andrej L. Jurganov: Kategorii russkoj srednevekovoj kul’tury [Kategorien der russischen mittelalterlichen Kultur.] 2-e izd., isprav. i dop. S.-Peterburg , Moskva: Centr gumanitarnych iniciativ, 2009. 367 S., 17 Abb. = Pis’mena vremeni. ISBN: 978-5-88415-997-6.

Als 1998 die erste Auflage des Bandes erschien, widerfuhr ihm in der russischen Fachöffentlichkeit außergewöhnlich große Beachtung. Dies mündete in eine breite und mitunter kontroverse Diskussion vor allem über die vom Autor verfochtene Methode einer „historischen Phänomenologie“. Deren Ziel ist es, aus den Quellen die (Denk-)Kategorien zu ermitteln, die für die mittelalterliche Rus’ prägend waren und die diese von anderen Epochen und Gesellschaften unterscheiden: „[P]hänomenologisch werden die eigentümlichen Grundlagen des Bewusstseins von Mensch und Gesellschaft untersucht“ (S. 11). Zwar bleiben in dem Band selbst die theoretischen Überlegungen insgesamt recht knapp, doch hat Jurganov sie inzwischen ausführlicher dargelegt, so dass sich die Leser der zweiten Auflage nun besser orientieren können (A. L. Jurganov: Opyt istoričeskoj fenomenologii, in: Voprosy Istorii (2001), 9, S. 36–52; A. L. Jurganov, A. V. Karavašin: Opyt istoričeskoj fenomenologii. Trudnyj put’ k očevidnosti. Moskva 2003). Unter Berufung auf Edmund Husserl und Martin Heidegger ist es Jurganovs Anliegen, die Quellen aus sich selbst heraus sprechen zu lassen und nicht Denkschablonen oder Deutungsmuster aus späterer Zeit auf sie anzuwenden. Dieser Ansatz erinnert an Ernst Noltes umstrittenes Konzept einer „philosophischen Geschichtsschreibung“, die sich ebenfalls auf Heideggers Denken gründet. Die Furore, die Jurganovs Buch in Russland gemacht hat, hängt wohl vor allem damit zusammen, dass dieser methodische Ansatz einen radikalen Bruch mit dem marxistisch geprägten Geschichtsdenken darstellt, dessen Interpretationsparadigmen zwar nach 1991 nicht mehr verbindlich sind, dessen Grundannahmen aber untergründig durchaus noch nachwirken.

Jurganov macht insgesamt vier Kategorien der mittelalterlichen Kultur der Rus’ aus, denen er jeweils ein Kapitel widmet. Die erste Kategorie bildet das Begriffspaar „christlicher Glaube“ (vera) und „Gerechtigkeit“ (pravda). Ausgehend von Ivan Peresvetov kommt er zu dem Schluss, dass pravda im Verständnis der mittelalterlichen Rus’ eher dem entsprach, was heute als „Glauben“ bezeichnet wird. Der Begriff pravda transportiere angesichts des kommenden Jüngsten Gerichts die individuelle Verpflichtung, gemäß der gerechten, von Gott gegebenen Ordnung zu leben. Vera entsprach nach Jurganov dagegen der heutigen Vorstellung von Wahrheit (istina). Denn der Glaube habe sich nicht individuell, sondern äußeren Regeln und festgelegten Riten folgend geäußert. Ein Abweichen davon sei als Verlust der Wahrheit, des wahren Glaubens verstanden worden.

Im zweiten Kapitel behandelt Jurganov das Begriffspaar „schenken“ (blagoslovit’) und „verleihen“ (požalovat’) in Bezug auf herrscherliche Landzuteilungen. Auf der Grundlage der großfürstlichen Testamente kommt er zu dem Schluss, dass Schenkungen mit der Konnotation einer Segnung (blagoslovenie) nur Verwandte des Großfürsten erhielten und sich auf die Teilfürstentümer (udely) bezogen, während Güter per Gnadenerweis (žalovanie) verliehen wurden. Demgemäß wurde das Herrschaftsgebiet als Eigentum des Herrscherklans aufgefasst, eine Vorstellung, die auch auf ein mongolisches Vorbild zurückzuführen sei. Nach dem Aussterben der Rjurikidendynastie habe dieses Konzept jedoch seine Grundlage verloren, weil die neuen gewählten Zaren als ehemalige „Knechte des Herrschers“ nicht in gleicher Weise „Herrscher der Knechte“ werden konnten.

Der Frage der Bedeutung der „persönlichen Freiheit“ (samovlastie) spürt Jurganov anhand der Begriffspaare „Gott und Sklave Gottes“ sowie „Herrscher und Knecht“ nach. War die Kiever Rus’ aus seiner Sicht noch durch Vasallitätsverhältnisse geprägt, habe die „russisch-mongolische Symbiose“ (S. 181) die Selbstverortung der Untertanen als „Knechte“ gefördert, zumal den Großfürsten nach dem Fall von Byzanz eine sakrale Rolle zugefallen sei. Die Selbstbezeichnung als Knecht (cholop) sei dabei nicht als demütigend empfunden worden und habe sich auch terminologisch vom eigentlichen Leibeigenen/Sklaven (rab) unterschieden.

Die vierte Kategorie kreist um die Endzeiterwartung und das Jüngste Gericht. Eine Analyse der großfürstlichen Siegel bringt Jurganov zu dem überraschenden Ergebnis, diese würden nicht, wie allgemein angenommen, den Heiligen Georg im Kampf gegen den Drachen, sondern den Erzengel Michael im apokalyptischen Kampf mit der Schlange darstellen, wobei Michael auch als Verkörperung des jeweiligen Großfürsten gelesen werden könne. Erst Ende des 17. Jahrhunderts sei diese Gestalt zum Heiligen Georg umgedeutet worden. Auch die opričnina Ivans des Schrecklichen deutet Jurganov als eine Institution in Erwartung des nahen Weltendes: Der Zar habe sich eine geistliche Hirtenfunktion angeeignet und angesichts des kurz bevorstehenden Jüngsten Gerichts das Böse bestrafen wollen. Abschließend wendet sich Jurganov den eschatologischen Deutungen der smuta bei den Altgläubigen zu.

Jurganovs Argumente stellen manch überkommenes Geschichtsbild in Frage und provozieren im besten Sinne des Wortes zum Nachdenken. Vollkommen überzeugend sind sie allerdings nicht in jedem Fall. Das liegt auch an der Quellenauswahl. So lässt er die doch eigentlich zentrale Quellengattung der Chroniken weitgehend unbeachtet. Zudem gibt es einige Unschärfen und Inkonsistenzen. Obwohl er die spezifischen Kategorien einer Epoche herausarbeiten will, bleibt unklar, welchen Zeitraum er eigentlich als „Mittelalter“ versteht. Sein allgemeiner Bezugsrahmen ist das „vorpetrinische Russland“, doch geht er auf die Kiever Rus’ nur sporadisch ein und setzt seinen Schwerpunkt auf die Zeit vom 15. bis 17. Jahrhundert. Ob dies allein dem Mangel an einschlägigen Quellen aus früherer Zeit geschuldet ist oder auch andere Gründe hat, bleibt unklar. Auch den Raum lässt er merkwürdig unbestimmt. Jurganov adaptiert – seinem eigenen Ansatz zuwider – die moderne Russland-Vorstellung und beschränkt sich auf die nordöstliche Rus’ bzw. das Moskauer Reich. Im Mittelalter umfasste der Rus’-Begriff aber auch die ostslavisch-orthodoxen Gebiete, die später unter polnisch-litauischer Herrschaft standen. Galten die von Jurganov ermittelten Kategorien auch dort? Hier deutet sich das grundlegende Problem bei der Methode der „historischen Phänomenologie“ an: So richtig das Postulat ist, die Quellen aus sich heraus sprechen zu lassen und zu versuchen, den Sinngehalt der Worte im Verständnis der Zeitgenossen zu erfassen, die Fragen, die der Historiker an die Quellen und die Vergangenheit stellt, bleiben in seiner eigenen Gegenwart verhaftet. Gerade auch Jurganovs Band zeigt dies deutlich.

Der Buchtitel ist eine Anspielung auf Aaron Gurevičs Klassiker „Kategorii srednevekovoj kul’tury“ (1. Auflage Moskva 1972; deutsch: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. Dresden 1978) und unterstreicht Jurganovs Absicht, in Russland ein grundlegend neues Verständnis von der mittelalterlichen Rus’ einzuführen. Dadurch ist der Band ein typisches Kind der postsowjetischen Historiographie der neunziger Jahre. Ob es darüber hinaus tatsächlich eine ähnlich wichtige Bedeutung erlangen wird wie das Werk von Gurevič, bleibt indes zweifelhaft. Dessen ungeachtet ist es Jurganovs Verdienst, dass er das religiös begründete Denken in den Schriften der mittelalterlichen Rus’ wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit der modernen russischen Historiographie gerückt hat.

Wolfram von Scheliha, Leipzig

Zitierweise: Wolfram von Scheliha über: Andrej L. Jurganov: Kategorii russkoj srednevekovoj kul’tury [Kategorien der russischen mittelalterlichen Kultur.] 2-e izd., isprav. i dop. S.-Peterburg , Moskva: Centr gumanitarnych iniciativ, 2009. 367 S., 17 Abb. = Pis’mena vremeni. ISBN: 978-5-88415-997-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Scheliha_Jurganov_Kategorii_russkoj_srednevekovoj_kultury.html (Datum des Seitenbesuchs)

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