Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfram von Scheliha

 

Charles J. Halperin: The Tatar Yoke. The Image of the Mongols in Medieval Russia. Corrected Edition. Bloomington, IN: Slavica Publishers, 2009. VIII, 239 S. ISBN: 978-0-89357-369-0.

Wenn ein wissenschaftliches Werk, zumal zur Geschichte der mittelalterlichen Rus’, nach 24 Jahren eine Neuauflage erlebt, spricht das schon für dessen Bedeutung. Charles Halperins „The Tatar Yoke“ zählt mittlerweile sicherlich zu den Standardwerken über die Rus’ in der Mongolenzeit. Selbstbewusst kann Halperin deshalb erklären, er habe von seinen Thesen nichts zurückzunehmen; bei der Überarbeitung habe er sich auf kleinere Korrekturen und auf die Ergänzung des Untertitels beschränken können. Der Untertitel enthält tatsächlich die wichtige Information, dass es sich hier nicht um eine Darstellung der Geschichte des „Tatarenjochs“ handelt, sondern um eine Analyse der einschlägigen rus’ischen Quellen in Hinblick auf das darin enthaltene Mongolenbild. Vor dem Hintergrund der vielfältigen (Vor-)Urteile über den mongolischen Einfluss auf die Rus’ ist es Halperins Anliegen, die Quellen unvoreingenommen zu befragen und ihre „Integrität“ wiederherzustellen. Er gliedert seine Analyse chronologisch in fünf Abschnitte: Die Ära von Khan Batu, die Zeit der Unterdrückung (12551380), die Kulikovo-„Epoche“, die Zeit der dynastischen Krise (14251450) und die Befreiungsperiode. Charakteristisch für die Quellen sei, so Halperin, eine „Ideologie des Schweigens“ zu den realen Machtverhältnissen zwischen der Rus’ und dem Ulus-J̌uči. Die Chroniken würden die Fiktion aufrechterhalten, dass sich, abgesehen von regelmäßigen Tributsammlungen und Beutezügen, am Verhältnis zu den Steppenvölkern seit der Kiever Zeit nichts geändert habe. Deshalb fehle dort auch eine „Ideologie der Eroberung und der Befreiung“. Ursache dafür sei die Religion, denn es sei unmöglich, dass Ungläubige als Diener des Teufels über Christen herrschen.

Halperin stützt seine Argumentation zu einem wesentlichen Teil auf seine eigenwillige Übersetzung von pleniti. Das in den Quellen häufig verwandte Verb gibt er nicht wie üblich mit ‚gefangennehmen‘, sondern durchgängig mit ‚plündern‘ wieder, ohne dies jedoch hinreichend zu begründen. Zum Beispiel heißt es in der Troickaja-Chronik unter dem Jahr 1327: „[…] velikaja rat’ tatarskaja […] plěniša Tfěr’ i Kašin i pričija gorody i volosti.“ Halperin zufolge heißt der Satz, das große tatarische Heer habe Tver’, Kašin sowie weitere Städte und Dörfer „geplündert“ (S. 94). Tatsächlich führen einige der einschlägigen Wörterbücher ‚plündern‘ als eine Nebenbedeutung für pleniti auf, doch einen wichtigen Aspekt hat Halperin dabei übersehen: Während engl. to plunder und dt. plündern sowohl transitiv als auch intransitiv verwendet werden können, ist pleniti ausschließlich ein transitives Verb. Pleniti gorody kann deshalb nicht die intransitive Bedeutung ‚die Städte plündern, in den Städten marodieren‘ haben. Denn syntaktisch wäre gorody in diesem Fall ein Adjunkt. Im Ursprungssatz handelt es sich dabei jedoch um das für transitive Verben erforderliche direkte Objekt. Als korrekte Übersetzung kommt deshalb nur ‚die Städte gefangen (in Besitz) nehmen“ in Frage, was im übertragenen Sinne ‚die Verfügungsgewalt über die Städte übernehmen‘ bedeutet. Das wäre dann aber doch eine recht deutliche Aussage über die politischen Machtverhältnisse. Zu fragen wäre außerdem, ob die rus’ischen Quellen vor und nach der Mongolenherrschaft wesentlich klarer im Hinblick auf die staatsrechtlichen Verhältnisse sind. Denkt man etwa an die strittige Frage, welche Gebiete überhaupt der Rus’ zuzurechnen sind, oder an die (zemskie) sobory des 16. und 17. Jahrhunderts, für die die Quellen nicht einmal eine eindeutige Begrifflichkeit bereithalten, entstehen Zweifel, ob eine solche „Ideologie des Schweigens“ ein Spezifikum der Mongolenzeit war. Das Fehlen abstrakter Begriffe zur Benennung der Herrschaftsverhältnisse oder zu deren genauerer Beschreibung in den Quellen der mittelalterlichen Rus’ beruht deshalb wohl weniger auf einer Intention der Chronisten. Vielmehr vermochten sie überhaupt nicht in entsprechenden staatsrechtlichen Kategorien zu denken – eine Folge der unterbliebenen Rezeption des römischen Rechts.

Dessen ungeachtet bleibt aber Halperins Arbeit überaus verdienstvoll. Bei aller Komplexität der Überlieferungsgeschichte der Chroniken versteht es Halperin, die verschiedenen Schichten sauber zu sezieren. Ohne weitschweifig zu werden, legt er die Quellenproblematik und seine Überlegungen gut verständlich dar. Sein engagierter Stil macht das Buch darüber hinaus zu einer anregenden Lektüre. Aber vor allem auch inhaltlich enthält es zahlreiche wichtige Beobachtungen. So zeigt Halperin, dass die Quellen keine zivilisatorischen, ethnischen oder kulturellen Vorbehalte gegen die ‚primitiven‘ nomadischen Turko-Mongolen enthalten und dass das verbreitete Bild vom „Tatarenjoch“ und das damit verbundene Grundmotiv der Befreiung von der „Fremdherrschaft“ eine Konstruktion späterer Jahrhunderte ist. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass „The Tatar Yoke“ wieder im Buchhandel erhältlich ist.

Wolfram von Scheliha, Leipzig

Zitierweise: Wolfram von Scheliha über: Charles J. Halperin The Tatar Yoke. The Image of the Mongols in Medieval Russia. Corrected Edition. Bloomington, IN: Slavica Publishers, 2009. VIII. ISBN: 978-0-89357-369-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Scheliha_Halperin_Tatar_Yoke.html (Datum des Seitenbesuchs)

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