Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Joachim von Puttkamer

 

Stefan Troebst: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa. Stuttgart: Steiner, 2013. 440 S., Abb. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 43. ISBN: 978-3-515-10384-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Stefan Troebst ist einer der produktivsten und vielseitigsten Historiker unserer Zunft. Das Spektrum seiner Themen umspannt das gesamte östliche Europa. In Makedonien und Bulgarien ist er gleichermaßen zuhause wie in Polen oder in Altrussland. Sein bevorzugtes Medium ist der Aufsatz. Hier versammelt er nun 26 Beiträge aus den Jahren 2006–2012. Es ist, seit einem ersten Band (Kulturstudien Ostmitteleuropas. Frankfurt/Main 2006) und einer Zusammenstellung seiner Aufsätze zu Makedonien (Das makedonische Jahrhundert. München 2007), bereits der dritte Band dieser Art. Worin aber liegt der Sinn, bereits veröffentlichte Beiträge zu höchst unterschiedlichen Themen und aus unterschiedlichen Forschungskontexten nunmehr zwischen zwei Buchdeckeln zu versammeln? Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis weckt Zweifel. Mal geht es um Slavizität als Identitätsmuster und Analyserahmen, mal um geschichtspolitische Deutungskämpfe um den Hitler-Stalin-Pakt, um griechische Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR oder um das heuristische Potential geschichtsregionaler Konzeptionen im östlichen und südlichen Europa. Die enorme Spannbreite der Themen hat ihren Preis, denn solche Vielfalt lässt sich nur schwer organisieren. Für die Beiträge unter anderem zum Krakauer Schlachtenmaler Wojciech Kossak, zu Walter Markov als Gründungsvater der Balkanforschung Leipziger Couleur, zum Wandel deutscher Bulgarienbilder und zum Deutungsmuster der Jugoslawienkriege in der Karikatur ist „Kulturgeschichte“, so bunt sie eben sein kann, eine denkbar offene Überschrift.

Ein roter Faden ist also kaum zu erwarten. Das soll hier auch nicht zum Maßstab erhoben werden, zumal Troebst den wiederholten Abdruck bereits veröffentlichter Gedankengänge eingangs mit einem Zitat Adornos absichert und sich en passant noch auf ein Umfeld produktiver Zufälligkeit beruft, in dem der Band entstanden sei und an dem der Verfasser dieser Zeilen selbst nicht ganz unschuldig ist. Den Anspruch auf Kohärenz des Ganzen erhebt Troebst aber sehr wohl, und das durchaus zu Recht. Da sind zunächst drei Einführungen: zu Ernest Renan, zur Slavizität und zum Mitteleuropakonzept, durchweg luzide Studien, welche die Tragfähigkeit gängiger Topoi und Begriffe ausloten, sie in ihren jeweiligen historischen Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen aufschlüsseln und sie auf ihr erkenntnisförderndes Potential abklopfen. An Ernest Renan, um gleich den ersten Beitrag herauszugreifen, fasziniere in der gegenwärtigen Rezeption das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen, das sich mitnichten auf das vielzitierte „plébiscite de tous les jours“ reduzieren lasse. Solche Befunde fügen sich zu den beiden abschließenden Aufsätzen. Ausgehend von der Konjunktur des Raumbegriffs plädiert Troebst hier zunächst für einen „regional turn“, denn dieser können dynamische Prozesse transnational vergleichbar machen. Vor diesem Hintergrund skizziert er dann die Herausforderungen, welche die maritim zentrierten Konzepte eines Schwarzmeerraumes und erst recht einer Mittelmeerwelt für den konkurrierenden Entwurf einer historischen Region Südeuropa bergen.

Der eigentliche Gewinn aber besteht in der Zusammenschau der Aufsätze zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Die kundigen Analysen zum Gedenken an den Hitler-Stalin-Pakt, an Holocaust, Kriegsende und Vertreibungen, an das Jahr 1956 sowie zum Diktaturvergleich entfalten vielfach zerklüftete Erinnerungslandschaften. Mit Blick auf die Möglichkeiten gemeinsamen europäischen Erinnerns bieten sie Anlass zu tiefer Skepsis. Denn sie zeigen tiefe Bruchlinien auf. Die Erinnerung an den Holocaust teile Europa in Ost und West, die Erinnerung an den Gulag hingegen trenne Ostmitteleuropa von Russland, und dies nicht erst seit 1989. Was Troebst hier anhand der bereits 1956 einsetzenden Erinnerung an den Gulag entfaltet, ist ein übergreifendes Motiv mehrerer Aufsätze. Denn der Versuch, eine gesamteuropäische Erinnerung an das 20. Jahrhundert auf einen antitotalitären Konsens zu gründen, lässt sich offenbar nur in Abgrenzung von Russland unternehmen. Klarsichtig zeigt Troebst dies anhand des Beschlusses, mit dem das Europaparlament im April 2009 den 23. August zum europäischen Gedenktag an die Opfer der nationalsozialistischen wie der stalinistischen Verbrechen erhob. Im Kreml sei dies überwiegend als Angriff auf die russische Staatsraison empfunden worden, die sich aus der Erinnerung an den Sieg im Zweiten Weltkrieg speise. Aggressive Selbstabschottung überschatte die Impulse, die Rolle Stalins kritischer zu bewerten. Im Lichte der jüngsten Entwicklungen in der Ukraine lesen sich solche Befunde nochmals bedrängender als bei der ersten Veröffentlichung 2011. Etwas hoffnungsvoller stimmen hingegen diejenigen Analysen, welche die vielfältigen geschichtspolitischen Diskussionslinien innerhalb der einzelnen Gesellschaften im östlichen und südöstlichen Europa nachzeichnen. Zwar fuße die Erinnerungskultur insbesondere auf dem Balkan in den stabilen Prägungen aus der Epoche nationaler Emanzipation im späten 19. Jahrhunderts, so der Beitrag zu den Politics of History in Südosteuropa. Die jeweils nationale Erinnerung an den Kommunismus sei hingegen hochgradig volatil. Solche Einsichten sind auch nach einem halben Jahrzehnt keineswegs überholt. Der vagen Hoffnung, dass stabile demokratische Verhältnisse auf mittlere Sicht einer Konvergenz europäischer Erinnerung den Weg bahnen könnten, gar noch nach deutschem Vorbild, erteilen die hier versammelten Beiträge eine unmissverständliche Absage. Schon deshalb tut es gut, sie in einem Band vor sich zu haben.

Insofern bietet der vorliegende Band tatsächlich mehr als nur eine Übersicht über die mehr oder weniger einschlägigen Aufsätze der vergangenen Jahre. Er lässt sich als Kompendium unterschiedlicher Standortbestimmungen der Geschichtsschreibung zu Ostmittel- und Südosteuropa lesen, fachlicher wie geschichtspolitischer Natur. Somit ist er mehr als ein nützliches Referenzwerk für Leipziger Studierende, deren Wunsch der Autor nachgekommen ist, Verstreutes und doch Kohärentes zu konzentrieren, und mehr als eine würdige Verbeugung vor Troebsts frühem akademischem Mentor, dem inzwischen verstorbenen Charles Jelavich.

Joachim von Puttkamer, Jena

Zitierweise: Joachim von Puttkamer über: Stefan Troebst: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa. Stuttgart: Steiner, 2013. 440 S., Abb. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 43. ISBN: 978-3-515-10384-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Puttkamer_Troebst_Erinnerungskultur_Kulturgeschichte_Geschichtsregion.html (Datum des Seitenbesuchs)

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