Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Karl von Delhaes

 

Sarah Dietz: British Entrepreneurship in Poland. A Case Study of Bradford Mills at Marki near Warsaw, 1883–1939. Farnham, Surrey, Burlington, VT: Ashgate, 2015. XIII, 296 S., 17 Abb. = Modern Economic and Social History. ISBN: 978-1-4724-4138-6.

In aller Regel stützt sich Firmengeschichte vornehmlich auf Firmenarchive oder sonst erhaltene Unterlagen aus Buchhaltung, Korrespondenz, Jahresberichten etc. In der vorliegenden Fallstudie war dies nicht möglich, da Bradford Mills in Marki im zweiten Weltkrieg vollständig zerstört wurde und als selbständige private Firma auch keinerlei Berichtspflichten unterlag. Die an der University of Bradford promovierte Textilspezialistin Sarah Dietz, die damit weitgehend auf Auswertung sekundärer Quellen angewiesen war, macht aus dieser Not eine Tugend: Gestützt auf britische Konsular-Korrespondenz, russische Fabrikinspektions- und Polizeiberichte, Mitteilungen von Handelskammern und ähnlichen Gremien, polnische und englische Zeitungsmeldungen, zeitgenössische Literatur (bis hin zur Belletristik) sowie persönliche Korrespondenz der Akteure, kann ihre Fallstudie zugleich als sozialgeschichtlicher wie als wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag überzeugen.

Dass die zu ihrer Zeit beachtliche Auslandsdirektinvestition in Kongresspolen auch von eher soziologischen Aspekten beeinflusst wurde, zeigt sich sowohl bei ihrer Finanzierung als auch in vielen Details der vor Ort verfolgten Unternehmensstrategie: Die Partnerschaft der Unternehmer Briggs und Posselt verdankte sich zum guten Teil gemeinsamen außerökonomischen Interessen, wobei sich der Deutsche E. Posselt – trotz geschäftlich vorwiegend internationaler Orientierung – in Bradford weitgehend dem Lebensstil der dortigen nordenglischen Fabrikanten assimiliert hatte. Einer alternativen Finanzierung durch englischen Bankkredit war – so die Autorin – das standesbezogene Vorurteil der Finanzelite gegenüber den Fabrikanten hinderlich, denen als Emporkömmlingen misstraut wurde. Familienpolitische Beweggründe könnten bei E. Briggs Antrieb zu dem Projekt gegeben haben, der dort seine jüngeren Brüder John und Alfred etablierte. Diese heirateten auch – unter Vermittlung von Posselt – alsbald in die örtliche kommerzielle Elite ein und konvertierten zur evangelisch-augsburgischen Konfession, deren kirchliches Gremium Funktionen einer Handelskammer erfüllte, die in Russland verboten war. Nahezu alle Firmen, die am Aufbau der Fabrik in Marki beteiligt waren, hatten personelle Verbindungen zu dieser Kongregation, und die Vermittlung gegenüber russischen Behörden wie auch eine freundliche Berichterstattung in der lokalen Presse lässt sich Mitgliedern dieser Gemeinde zuschreiben.

Was die im engeren Sinne ökonomischen Gesichtspunkte der Arbeit betrifft, ist zunächst die Frage nach den finanziellen Beweggründen der Auslandsdirektinvestition interessant: Die herrschende Meinung in England, belegt durch Kammerberichte und Pressemeldungen, hielt den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts international um sich greifenden Protektionismus für die flaue Konjunktur, besonders in der heimischen Textilindustrie, und damit für die Verlagerung der Produktion ins Ausland verantwortlich. Dietz dagegen interpretiert die Investition in Marki, die keineswegs einen Zweigbetrieb der Firma in Bradford darstellte, als Ergebnis der Verlockung eines großen, abgeschotteten Marktes bei geringer inländischer Konkurrenz, niedrigen Löhnen, billigem Grunderwerb und dergleichen.

Entsprechend sieht die Autorin auch den Schwerpunkt unternehmerischer Leistung in der Erschließung neuer Märkte, sowohl bei den Zulieferungen als auch beim Absatz, weniger dagegen in Produkt- oder Verfahrensinnovation. Zwar wurde in der Gesamtkonzeption von vornherein auf eine flexible Produktpalette abgestellt, die zentrale Stufe, das Kammgarn (worsted), war aber länger bekannt und anderswo bereits mehrfach kopiert und modifiziert worden. Auch die eingesetzte Ringspindel-Technik war übernommen, allerdings nicht aus Bradford, sondern aus den USA, da sie sich besser für einen niedrigen Ausbildungsstand der Arbeiterschaft eignete. Besondere Erwähnung findet daneben die ganz überwiegende Beschäftigung weiblicher Arbeiter, die sich nicht zuletzt in den Arbeiterunruhen von 1892 und 1905 als vorteilhaft erwies. Das patriarchalische Fabriksystem mit Arbeiterwohnungen, Schule und Geschäften, wie es sich in England vor 1850 entwickelt hatte (und dort mit dem Aufkommen der Gewerkschaften bereits wieder überholt schien), war für das russische Teilungsgebiet durchaus geeignet, da hier die Bauernemanzipation erst 1861 erfolgte. Alle zuletzt genannten Aspekte wurden jedoch immer wieder im Rahmen einer systematisch betriebenen PR-Politik herausgestellt, die, wenn sie nicht dem Marketing im engeren Sinne diente, dem allgegenwärtigen Misstrauen der polnischen Bevölkerung gegenüber ausländischen Unternehmen entgegenwirken oder die russischen Behörden geneigt machen sollte.

Leider wird der Zeitraum von 1914–1939 – knapp die Hälfte der im Titel angegebenen Spanne – nur in einem einzigen Kapitel behandelt. Vermutlich ist dies der Quellenlage geschuldet. Bei der ausführlichen Diskussion des Protektionismus oder der innovativen Elemente des Projektes vermisst man Referenzen zu Klassikern wie F. List und J. A. Schumpeter. Da aber der analytische Ansatz der Arbeit in vielen Details vorwiegend betriebswirtschaftlich geprägt scheint, muss das nicht überraschen.

Zu empfehlen ist diese Fallstudie all jenen, die sich mit polnischer, englischer und auch russischer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zwischen 1850 und 1914 beschäftigen. Darüber hinaus enthält sie aber zugleich manches Element, das in der aktuellen Debatte um die ökonomische Globalisierung und im Streit über Freihandelsabkommen von Interesse sein könnte!

Karl von Delhaes, Marburg/Lahn

Zitierweise: Karl von Delhaes über: Sarah Dietz: British Entrepreneurship in Poland. A Case Study of Bradford Mills at Marki near Warsaw, 1883–1939. Farnham, Surrey, Burlington, VT: Ashgate, 2015. XIII, 296 S., 17 Abb. = Modern Economic and Social History. ISBN: 978-1-4724-4138-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Delhaes_Dietz_British_Entrepreneurship.html (Datum des Seitenbesuchs)

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