Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Manfred von Boetticher

 

Aleksandr V. Golubev: „Esli mir obrušitsja na našu Respubliku ...“. Sovetskoe obščestvo i vnešnjaja ugroza v 1920–1940 gg. [„Wenn die Welt über unsere Republik herfällt …“. Die sowjetische Gesellschaft und die äußere Bedrohung in den zwanziger bis vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts]. Moskva: Kučkovo pole, 2008. 383 S. = Istoriko-socialnye is­sledovanija. ISBN: 978-5-901679-65-4.

Wenn die Welt über unsere Republik herfällt …“: Die stete Sorge der sowjetischen Bevölkerung vor einem drohenden Krieg in den Jahren 1920 bis 1940, angeheizt durch äußere Isolierung und unaufhörliche Propaganda der sowjetischen Führung, die dann aber 1941 den tatsächlich bevorstehenden Überfall Hitlerdeutschlands nicht wahrhaben wollte, ist Thema der vorliegenden Monographie.

Wesentliches Ziel der Kommunisten bei der Revolution in Russland sei es gewesen, nicht nur die Herrschaft im Land zu erringen, sondern auch das gesamte Denken der Bevölkerung zu kontrollieren. Im Mittelpunkt stand dabei eine „Mythologisierung“ der Welt als Arena eines Kampfes zwischen den Kräften des Fortschritts, d. h. der Sowjetunion und der kommunistischen Parteien, und den Kräften der Reaktion, wobei der Sieg der ersteren als ebenso unausweichlich dargestellt wurde „wie die Wiederkehr Christi in der Vorstellung der Gläubigen“. In der sowjetischen Propaganda erschien die Abstraktion der „äußeren Welt“ als eine Realität, die das tägliche Leben und die politische Kultur weithin bestimmte. Zum zentralen Punkt der Propaganda wurde die äußere Grenze des Landes, stilisiert zu einer Grenze zwischen zwei Systemen, die selbst in der Vorstellung der politischen Elite der Sowjetunion nahezu sakrale Bedeutung erhielt.

Vom tatsächlichen Leben in den kapitalistischen Ländern erfuhr die sowjetische Bevölkerung fast nichts. „Der Westen“ erschien zwar undifferenziert als einheitlicher Block, aus dem dann aber einzelne Länder hervortraten, von denen angeblich die Hauptgefahr für die Sowjetunion ausging. Ende der zwanziger Jahre war dies Großbritannien, Anfang der dreißiger Jahre Frankreich, 1933 übernahm Hitlerdeutschland diese Rolle – wenn auch nur bis zum Pakt zwischen Molotov und Ribbentrop 1939. Von diesem Zeitpunkt an trat an die Stelle des faschistischen Deutschland wieder das „reaktionäre antisowjetische England“.

Als wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Propaganda erscheint der Abbruch nahezu aller Außenkontakte der Bevölkerung nach der Entstehung der Sowjetunion bei gleichzeitiger staatlicher Kontrolle der gesamten Presse. Eher beiläufig zeigt der Autor die persönliche Haltung Stalins zu seinen beiden Vorbildern Ivan IV. und Peter I., wobei Stalins Vorlieben unter den damaligen Bedingungen ihren Teil zur staatlichen Agitation beitrugen: Ivan der Schreckliche wurde vor allem geschätzt, weil er keinen ausländischen Einfluss in Russland zuließ; Peter der Große habe dagegen, bei all seinen Verdiensten, dem Westen gegenüber eine zu freundliche Haltung eingenommen.

Einen allmählichen Bewusstseinswandel in der Sowjetunion gegenüber dem Ausland sieht der Autor als Folge der Notwendigkeit, während des Zweiten Weltkriegs mit den westlichen Mächten zu kooperieren. Der Vorstoß über die sowjetischen Grenzen hinaus brachte für breite Massen einen neuen Blick auf das Leben im Westen. Vergeblich versuchte die sowjetische Führung nach dem Krieg, mit ihrer Kampagne gegen den „Kosmopolitismus“ die Entwicklung zurückzudrehen. Die Stereotypen in der Wahrnehmung der äußeren Welt machten differenzierteren Vorstellungen Platz, auch wenn eine drohende Kriegsgefahr, nunmehr ausgehend von den USA und der NATO, weiterhin das allgemeine Bewusstsein beherrschte.

Seit 1985 gingen solche Vorstellungen, wie es zunächst schien, mit dem damaligen Wandel in der Sowjetunion zu Ende. Probleme mit der „Perestrojka“ und Schwierigkeiten bei der Einführung des Marktes führten in den folgenden Jahren jedoch zu einem Wiederaufleben traditioneller Denkmuster. Aufgrund der jetzigen Informationsmöglichkeiten sieht der Autor jedoch die Möglichkeit, die „Mythologisierung“ des Westens im Bewusstsein der russischen Bevölkerung weiterhin abzubauen.

Die Arbeit beruht auf der Analyse eines umfangreichen Archivmaterials, auf geheimen Berichten über die tatsächliche Stimmung im Land, die für die politische Führung auf allen Ebenen häufig im Abstand von wenigen Tagen, manchmal auch mehrerer Monate von der Geheimpolizei zusammengestellt wurden. Als weitere Quelle dienten zeitgenössische Briefe, die aus der Bevölkerung an Parteigremien gerichtet wurden. Bewusst verzichtet hat der Autor auf die Auswertung von Memoiren, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden und in denen rückblickend stets allein Hitlerdeutschland als Hauptaggressor erscheint.

Während es dem Autor auf eine Darstellung des Bewusstseins der sowjetischen bzw. russischen Bevölkerung ankommt, werden weitergehende Fragen wie die nach der Entstehung der traditionellen Xenophobie in Russland nicht gestellt. Dies mag man bedauern. Auf jeden Fall eröffnet das Buch aber den Blick auf eine umfangreiche historische Überlieferung, die der Forschung bislang verschlossen war. Weitere Forschungen sollten folgen.

Manfred von Boetticher, Hannover

Zitierweise: Manfred von Boetticher über: Aleksandr V. Golubev: „Esli mir obrušitsja na našu Respubliku ...“. Sovetskoe obščestvo i vnešnjaja ugroza v 1920–1940 gg. [„Wenn die Welt über unsere Republik herfällt …“. Die sowjetische Gesellschaft und die äußere Bedrohung in den zwanziger bis vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts]. Moskva: Kučkovo pole, 2008. 383 S. = Istoriko-social’nye is­sledovanija. ISBN: 978-5-901679-65-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Boetticher_Golubev_Esli_mir_obrusitsja.html (Datum des Seitenbesuchs)

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