Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wim van Meurs

Catherine Horel (Hrsg.): Les guerres balkaniques (1912–1913). Conflits, enjeux, mémoires. Bruxelles: Peter Lang, 2014. 348 S., 10 Abb., 1 Tab. Enjeux internationaux, 31. ISBN: 978-2-87574-185-1.

Inhaltsverzeichnis:

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Die Jahrhundertfeier der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs haben in den letzten Jahren eine ungeahnte Welle an Veröffentlichungen hervorgerufen, von enzyklopädisch umfassend bis spezifisch fokussiert. Begleitet wurde diese Welle von zahlreichen Ausstellungen und Großveranstaltungen für eine breitere Öffentlichkeit. Zum akademischen Rahmenprogramm gehörten zudem zahllose Sammelbände mit einem eher impressionistischen Ansatz. Dieser Kategorie zuzurechnen ist auch der Band von Catherine Horel zu den Balkankriegen von 1912–1913. Der Untertitel Konflikte, Themen und Erinnerungen lässt diesen großzügigen Ansatz bereits erahnen. Der Band ist das Ergebnis der mittleren von drei internationalen Konferenzen, die in Paris unter dem Motto „von Sarajevo bis Sarajevo“ abgehalten wurden. Ob damit 1908 oder 1914 bzw. 1994 oder 2014 (letzteres als erhofftes Zieldatum für die Aufnahme des Balkans in EU-Europa) gemeint ist, bliebt unklar, ist aber nebensächlich.

Die Tagungsbeiträge sind thematisch geordnet: regionale Konflikte, internationale Interventionen und Kriegserinnerungen. Diese Gliederung ruft Fragen auf, nicht zuletzt weil Kriegserinnerungen, politische und gesellschaftliche Traumata und Aufarbeitung sich zu einem eigenständigen Themenfeld entwickelt haben. Die Erforschung späterer gesellschaftlicher Vergangenheitsbewältigung und politischer Instrumentalisierungen des Kriegsgeschehens hat streng genommen mit den historischen Konflikten und Interventionen wenig gemeinsam. Auch die bildliche Darstellung durch Foto, Film und im Propagandadruck (fast ein Novum dieser Kriege), ist ein Thema an sich. Ein Fragezeichen haftet auch an der etwas willkürlichen Trennung zwischen einheimischen Konflikten und Außeninterventionen, insbesondere da just das Fehlen des Großmachteingreifens diese bewaffneten Auseinandersetzungen kennzeichnete.

Die Einleitung der als Ungarn- und Ostmitteleuropa-Expertin bekannte Herausgeberin Catherine Horel verspricht ehrlicherweise keine neuen Einsichten in der ausufernden Forschung zu den Balkankriegen und zum Ersten Weltkrieg. Bei einem argwöhnischen Leser könnte manche Aussage, wie die über die „Brutalisierung“ des Krieges, die mit den Balkankriegen begonnen habe (S. 14), sogar ungewollte Assoziationen mit dem Carnegie-Report von1914 hervorrufen. Auch die leicht hingeworfenen Verbindungen zwischen den Kriegen am Anfang des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ und denen an dessen Ende vermögen diesen Argwohn nicht zu zerstreuen. (S. 15) Positiv ist dagegen zu bewerten, dass die meisten Autoren aus den Staaten Südosteuropas kommen, auch wenn etwas unverständlich bleibt, warum drei von zwanzig Beiträgen in (teilweise unakzeptabel schlechtem) Englisch gedruckt wurden.

Bei einem derart großen Thema wäre eine gleiche Repräsentation aller involvierten Staaten in der Darstellung eine ungerechtfertigte Forderung. Auffällig ist dennoch, dass Bulgarien gänzlich fehlt, während mehrere Autoren sich Albanien bzw. Rumänien widmen. Auch die Forderung nach einem gemeinsamen Ansatz für jedes Thema oder nach gewissen Vorgaben bezüglich Analyseebene wäre vielleicht zu hoch gegriffen. Im ersten Teil (Konflikte) reichen die Beiträge von einer Darstellung der doch recht spezifischen Annexion der Süddobrudscha durch Rumänien im Sommer 1913 bis zur Rolle von Freischärlern in der Kriegführung generell. Im ersteren Fall fehlt den meisten Lesern der breitere historische Kontext. Im zweiten Fall ist der Rahmen zu breit gesteckt und erscheinen die Komitadschi oder Hajduke undifferenziert als Konstante der gesamten Balkangeschichte. Über dieses Thema ist in den letzten Jahren außerdem viel geschrieben worden, zu viel, um den Erfolg solcher irregulären Kampftruppen nur mit den Talenten ihrer Anführer zu verknüpfen.

Diese Probleme der Tiefenschärfe und des thematischen Zusammenhangs werden in den beiden anderen Teilen des Sammelbandes noch deutlich größer. Der Umfang der Beiträge variiert von sechs bis über zwanzig Seiten. Wie der Dobrudscha-Beitrag im ersten bietet auch der Beitrag über die Londoner Botschafterkonferenz und die Gründung Albaniens im zweiten Teil klassische Diplomatie- und Militärgeschichte. Dieser Blickwinkel hat gewiss seine Berechtigung für die Schlüsselrolle Albaniens in diesen beiden Balkankriegen. Für einen ähnlichen Beitrag über internationale Seestreitkräfte vor der albanischen und montenegrinischen Küste ab 1880 ist dies eher fraglich. Wesentlich interessanter und auf der Höhe der Forschung ist der Beitrag von Nadine Akhund über die Expedition der genannten Carnegie-Kommission auf dem Balkan. Sie verknüpft die Arbeit der Kommission, ihre Normen (bezüglich Kriegsmoral) und ihre Lösungsansätze erfolgreich mit den neuen Beteiligten der internationalen Politik jener Jahren – einer internationalen Öffentlichkeit und den ersten „Nichtregierungsorganisationen“ avant la lettre. Dagegen passt der letzte Beitrag in diesem Teil über die Berichterstattung vom Balkan durch den französischen Le Matin-Journalisten Stéphane Lauzanne überhaupt nicht. Nicht nur, dass er berühmter ist wegen seiner eigenen Kampferzählungen aus dem Ersten Weltkrieg, sondern auch zu „internationalen Interventionen“ gehört sein Augenzeugenbericht zum Ersten Balkankrieg sicherlich nicht. Der Autor ist zudem unentschlossen, ob er Lauzannes Erfahrungen auf der Reise nach und in Istanbul nacherzählen oder sie als Quelle für die Ereignissen und Stimmung in der osmanischen Hauptstadt verwenden möchte.

Unweigerlich ist es im dritten Teil allein vom Thema her noch schwieriger, die Einzelbeiträge zu „Konflikterinnerungen“ sinnvoll zusammenzubinden. Drei von sechs Beiträgen befassen sich hier mit der westlichen Perspektive (ein französischer und ein britischer Journalist sowie ein französischer Armeezeichner). Auch der Beitrag über die zeitgenössische rumänische Presse und ihre Kriegsberichterstattung gehört dazu, auch wenn es sich hier um eine am Krieg (dem Zweiten Balkankrieg) beteiligte Nation handelt. Claudiu-Lucian Topors Darstellung der nationalistischen Presserhetorik vermag jedoch kaum mit Überraschungen aufzuwarten. Zitate belegen die Kriegsbegeisterung in Adevărul oder Dimineaţa. Leider verfolgt der Autor dabei das Kriegsgeschehen und dessen Wiedergabe in der Presse, statt zwischen den Positionen der einzelnen (politisch gebundenen) Zeitungen unterscheiden zu wollen. Nicht der Nationalismus als gemeinsamer Nenner, sondern die subtileren Unterschiede und Zwischentöne wären hier von Interesse gewesen. Das Fazit ist an sich nicht ohne Rhetorik: „Die Bevölkerung resignierte, die Kampfmoral des Heeres brach zusammen. Der nationale Neuanfang war nicht einfach. Er dauerte länger als der Krieg selbst und kam erst spät, in der Zwischenkriegszeit, zum Abschluss.“ (S. 301)

Das Thema der beider letzten Aufsätze in dem dritten Teil ist jedoch ein ganz anderes: der (vor allem politische) Umgang mit den drei Kriegen im weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts. Stanislav Sretenović untersucht die Verbindung zwischen Kriegserinnerung und Jugoslawismus, Tschavdar Marinov das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen in Mazedonien. Der Beitrag von Sretenović ist relativ umfangreich, umspannt aber auch die gesamte Epoche von 1918 bis 1991. Seine Analyse der Instrumentalisierung der Kriege im Königreich, im Tito-Stalin-Konflikt sowie in den internen Machtkämpfen der sechziger Jahre gehört zu den interessantesten des Bandes. So hätten Titos Propagandisten die Kämpfer der Balkankriege gezielt zu Vorläufern der Partisanen im Zweiten Weltkrieg stilisiert. Auf zwanzig Seiten bleibt diese Analyse aber unweigerlich skizzenhaft.

Insgesamt bestätigt dieses Buch den schlechten Ruf, der Tagungsbänden generell anhaftet. Die Autoren beteiligten sich anscheinend aus unterschiedlichsten Motiven und hatten unterschiedlichste Zielgruppen vor Augen. Die Herausgeberin (die keinen eigenen Beitrag beisteuerte) hat sie gewähren lassen. Leider ist es die Realität der Forschungsförderung heute, dass Internationalisierung, Interdisziplinarität und Öffentlichkeitswirksamkeit als ausschlaggebende Kriterien solche heterogenen Tagungen hervorbringen. Das Endprodukt ist der nächste Sammelband mit wenigen lesenswerten Beiträgen, die auf diese Weise aber unbemerkt bleiben werden. So wie die Balkankriege selbst damals hat auch das publizistische Getöse um ihre Jahrhundertfeier seine Nebenschauplätze.  

Wim van Meurs, Kleve/Nijmegen

Zitierweise: Wim van Meurs über: Catherine Horel (Hrsg.): Les guerres balkaniques (1912–1913). Conflits, enjeux, mémoires. Bruxelles: Lang, 2014. 348 S., 10 Abb., 1 Tab. Enjeux internationaux, 31. ISBN: 978-2-87574-185-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/van_Meurs_Horel_Les_guerres_balkaniques.html (Datum des Seitenbesuchs)

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