Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wim van Meurs

 

Nanci Adler: Keeping Faith with the Party. Communist Believers Return from the Gulag. Bloomington, IN, Indianapolis: Indiana University Press, 2012. XVII, 237 S., 15 Abb. ISBN: 978-0-253-22379-1.

Stalins Säuberungen und Schauprozesse ergaben im Westen das Bild eines Riesenreiches, in dem die Willkür eines Mannes über Leben und Tod zahlloser unschuldiger Bürger entschied. Die Verschleppung ganzer Völker im Krieg und die in der Nachkriegszeit durchsickernden Informationen über Grauen und Umfang des Gulags verfestigten dieses Bild. Erzählungen über Parteimitglieder, die nach der Rückkehr aus der Verbannung als erstes Rehabilitation und Wiederaufnahme in die Partei beantragten, galten als irrationale Skurrilität einer zutiefst traumatisierten Bevölkerung. Ebenso Zwangsarbeiter, die trotz Entstalinisierung noch Jahrzehnte später voller Stolz über ihren Beitrag zum Aufbau des Sozialismus in Magadan, Norilsk oder am Belomorkanal erzählten, sogar Briefe an Lenin p. A. „Mausoleum“ schrieben. Erst die revisionistische westliche Historiographie der siebziger Jahre hat diesen unerschütterlichen Glauben an die Partei und ihre Wahrheit aufgegriffen, um zu zeigen, dass auch eine Gewaltdiktatur wie die stalinistische ohne Anhänger, Vertrauen und Überzeugungsarbeit nicht bestehen könne.

Nach ihrer 1999 publizierten Studie über die Opfer des Stalinismus (The Great Return: The Gulag Survivor and the Soviet System) stellt Nanci Adler in der vorliegenden Arbeit die Sicht mancher Überlebenden in den Mittelpunkt, die sie selbst als „counterintuitive“ umschreibt: Sie hielten der Partei und dem Regime die Treue trotz (oder gerade wegen) der persönlichen Unrechtserfahrungen. Ob dies die Schwäche oder gerade die Stärke des Regimes ausmachte, ist eine offene Frage. In diesem neuen Buch richtet sie ihre volle Aufmerksamkeit auf die Minderheit derjenigen, die sich nach ihrer Rückkehr der Partei, dem Staat oder zumindest der neuen kollektiven Führung gegenüber loyal und dankbar zeigten. Sogar Aleksandr Solženicyn musste eingestehen, dass diese nicht nachvollziehbaren Gefühle mancher Stalinopfer trotzdem echt waren.

Angesichts der Fülle an schriftlichen und mündlichen Zeitzeugnissen, die für heutige Leser das Motto „the past is a foreign country“ mehr als bestätigen, wäre die Versuchung groß, jedes Opfer für sich sprechen zu lassen – „speaking Bolshevik“. Aus dieser analytischen Studie wäre dann eine Sammlung von Opferberichten geworden. Erfreulicherweise hat die Autorin dieser Versuchung aber widerstehen können und hat die Berichte ihrer Analyse unter- und zugeordnet. Elegant werden Informationen und Aussagen der Opfer aus erster oder zweiter Hand thematisch geordnet und eingearbeitet – von den falschen Selbstbeschuldigungen und den nachträglichen Rechtfertigungen für den Terror zu Selbstzensur, Rehabilitation und Kriegserfahrungen. Neben namenlosen Opfern werden auch bekannte Schriftsteller wie Aleksandr Solženicyn, Lev Kopelev und Roj Medvedev aufgeführt.

Nanci Adler bietet dem Leser vier recht unterschiedliche Erklärungsansätze an (S. 1): 1. Kommunismus als „political religion“ im Sinne Stephen Kotkins, Emilio Gentiles und Roger Griffins; 2. ein kalkuliertes Bestreben, die Partei von der eigenen Loyalität zu überzeugen und so materielle Vorteile (wieder) zu erlangen; 3. kognitive Dissonanz als psychologische Unfähigkeit, mit seinem persönlichen Schicksal und seiner Lebensleistung ins Reine zu kommen; sowie schließlich 4. die psychologische Bindung des traumatisierten Opfers an seinen Peiniger, bekannt als Stockholm-Syndrom.

Abgesehen von der Faszination, die von solchen Zeitzeugnissen unweigerlich ausgeht, ist die akademische Schlüsselfrage einer solchen Studie die, wie der Autor mit dem Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und Erinnerung umgeht. Adler distanziert sich ohne viel Umschweife von der Sicht, dass Geschichte von einer Obrigkeit konstruiert werde, während die Erinnerung der Bürger authentisch und wahrhaftig sei. Sie akzeptiert, dass die nationale Meistererzählung die persönlichen Erinnerungen genauso prägt wie das individuelle Bedürfnis einer Sinngebung des eigenen Schicksals. Andererseits schreckt sie vor den Konsequenzen dieses Ansatzes zurück: Mittels einer gewissenhaften und kompetenten Kontextualisierung der Opferberichte sei der Historiker sehr wohl in der Lage, Zugang zur historischen Wirklichkeit des Gulags zu erringen (S. 6–-8, 22–23).

Angesichts der von der Autorin angerissenen komplexen psychologischen oder gar psychotischen Motivationslagen und allgemeinerer epistemologischer Bedenken erscheint dies jedoch fragwürdig. Motivation und Kontext der aufgeführten großen Namen der Gulag-Erinnerung und ­Aufarbeitung von Aleksandr Solženicyn bis Arthur Koestler werden zumindest nicht explizit erörtert, auch wenn die Autorin regelmäßig deren Wiedergabe von Aussagen der Opfer übernimmt, nicht aber die analytische Deutung. Gleiches gilt gewissermaßen für den wechselhaften und oftmals auch widersprüchlichen Umgang des Regimes mit der Vergangenheit von Terror und Gulag unter Chruščëv, Brežnev und in den Zeiten von Perestroika und Glasnost’. Memoiren aus der Stalin-Ära über Lager, Krieg und Revolution gehörten sowohl zum Mobilisierungsrepertoire der Dissidenten als auch zum Propagandamaterial und zur Legitimationsgrundlage des Regimes. Die Veränderungen im Laufe der Zeit werden in der Darstellung der thematischen Analyse untergeordnet (S. 134–144).

Eine Frage, die die Studie aufruft, aber nicht beantwortet, ist die, wie die Opfer sich in ihren Erinnerungen zu den unmittelbaren Vertretern des Regimes stellten. Loyal zur Partei und zum Sowjetstaat, identifizierten viele den bereits diskreditierten Lavrentij Berija (oder nach Chruščëvs Geheimrede Stalin selbst) als Schuldigen (S. 14–16, 46-47, 52). Inwieweit Parteifunktionäre und Lagerkommandanten in diesen Darstellungen als Personifizierung des Systems anstatt der Partei als Abstraktion bewertet wurden, wird nicht in den Blick genommen.

Passend zur Perspektive des langen und komplexen Nachhalls des Stalin-Regimes in der Psyche des Opfers und der traumatisierten Gesellschaft befasst die Autorin sich auch mit der postsowjetischen Zeit und den Kindern oder Enkeln der Gulag-Insassen. In mancher Hinsicht war das Ende des Kommunismus unter Gorbačev für die Loyalen ein noch größerer Schock als seine Erneuerung unter Chruščëv dreißig Jahre vorher (S. 163–164). Angesichts der heutigen Entwicklungen in Russland unter Putin erhält die Studie leider eine neue Aktualität und trägt gleichzeitig dazu bei, die Begeisterung in der Bevölkerung für Putins internationale Machenschaften zu deuten, die schließlich neben russischem Nationalismus auch eine Rückkehr zu alter sowjetischer Größe versprechen und eine Stalin-Nostalgie vermuten lassen (S. 164–168). Aufarbeitung der Vergangenheit mag sowohl in Russland wie in Serbien oder Irak somit weniger erfolgversprechend sein als die Schlussbetrachtung suggeriert (S. 174–175).

Insgesamt ist Adlers Monographie eine gelungene Gratwanderung zwischen Leserlichkeit und Repräsentativität. Eine überschaubare Zahl von Berichterstattern aus erster oder zweiter Hand werden immer wieder aufgeführt und sind somit für den Leser erkennbar. Gleichzeitig wird eine breite Palette von Themen und Motivlagen erörtert, ohne dass verheimlicht wird, dass die Loyalen eher in der Minderheit waren: Ihre Motive und Diskurse lassen sich analysieren und differenzieren, aber deren Verbreitung bleibt angesichts der Quellenproblematik eine offene Frage.

Wim van Meurs, Nijmegen/Kleve

Zitierweise: Wim van Meurs über: Nanci Adler: Keeping Faith with the Party. Communist Believers Return from the Gulag. Bloomington, IN, Indianapolis: Indiana University Press, 2012. XVII, 237 S., 15 Abb. ISBN: 978-0-253-22379-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/van_Meurs_Adler_Keeping_Faith.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Wim van Meurs. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.