Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Raoul Zühlke

 

Marek Tamm / Linda Kaljundi / Carsten Selch Jensen (eds.): Crusading and Chronicle Writing on the Medieval Baltic Frontier. A Companion to the Chronicle of Henry of Livonia. Burlington [etc.]: Ashgate, 2011. XXXVII, 484 S., 4 Ktn., Tab. ISBN: 978-0-7546-6627-1.

DasChronicon Livoniae“ Heinrichs von Lettland (im Folgenden mit HCL abgekürzt) gehört seit der Edition in den MGH und der wenig später erfolgten kommentierten deutschen Übersetzung durch Albert Bauer, beides in den 1950er Jahren, zu den bekanntesten und in der Geschichtswissenschaft am häufigsten zitierten Quellen aus dem hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa. Trotzdem gibt es bis heute keine umfassende Einführung, die den Einstieg in die Arbeit mit dieser komplexen und vielschichtigen Quelle einerseits und der sich um diese Quelle gruppierenden Forschung andererseits für neue, immer internationaler werdende Forschergenerationen erleichtern würde.

Dieser Umstand ist nicht ungewöhnlich. Einführungen in einzelne Quellen sind grundsätzlich rar. Im vorliegenden Fall wäre eine Art Handbuch aber begrüßenswert, denn der hohe Stellenwert des HCL in einer Vielzahl von Ländern hat auch zu einer sprachlich sehr aufgefächerten Forschungslandschaft geführt. Mindestens zehn Sprachen müsste man beherrschen, wollte man heute einen einigermaßen vollständigen Einblick in die primäre Forschungsliteratur erlangen. Dieses Problem wird bislang einzig dadurch abgemildert, dass rund die Hälfte der einschlägigen Literatur und im Prinzip nahezu alle Standardwerke, die das HCL als Hauptquelle nutzen, in deutscher Sprache erschienen sind. Bis heute werden oftmals, wie jüngst im Fall der Dissertation von Anti Selart geschehen, wichtige Werke, die nicht in den großen europäischen Sprachen veröffentlicht wurden, ins Deutsche übersetzt. Jenseits des deutschen Sprachraums sieht die Situation jedoch ungleich schlechter aus. Wer des Deutschen nicht mächtig ist, hat bislang nur eingeschränkte Möglichkeiten, sich einen zuverlässigen Einblick in die Forschungslage zu verschaffen. Daher wurde das Erscheinen des hier zu besprechenden Werkes mit großer Freude erwartet, damit zumindest das englischsprachige Publikum intensiver als bisher in die Erforschung integriert wird. Und in der Tat geben sich die Herausgeber diesbezüglich äußerst ambitioniert.

Dieser Anspruch ist begrüßenswert. Schlägt man allerdings das Inhaltsverzeichnis auf, fragt man sich sofort, wie er beiinkl. Vorwort und Einleitung19 einzeln stehenden, nicht aufeinander aufbauenden Artikeln von 20 unterschiedlichen Autoren eingelöst werden soll. Und in der Tat bietet das Werk insgesamt weder eine Synthese der Forschung, noch ist es in sich kohärentes ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Sammlung von Aufsätzen. Diese bieten einen aktuellen Stand der Forschung, aber schlaglichtartig und nicht hinsichtlich des Gesamtkomplexes. So werden in der Forschung breit diskutierte Themen zum Teil gar nicht explizit erfasst. Hierzu zählt zum Beispiel der bei Heinrich erwähnte Personenkreis oder der Wert des HCL für chronographische Überlegungen. Andererseits wird etwa das Konzept des Raumes bei Heinrich (vgl. dazu den Artikel von Torben Kjersgaard Nielsen: Henry of Livonia on Woods and Wilderness, S. 157–178), welches in der Forschung zum HCL bislang wenig beachtet wurde, in einem eigenen Aufsatz besprochen. Im Zuge des spatial turn ist der Raum als kulturelle Größe zu Recht wieder von größerem Forschungsinteresse, dessen Hineinnahme passt aber m.E. nicht in das von den Herausgebern selbst gewählte Konzept. Und noch ein anderer konzeptioneller Aspekt ist problematisch: Wenn man dengar nicht unbedingt zwingendenAnspruch hat, die verschiedenen nationalen Perspektiven zu überwinden oder zumindest zusammenzuführen, dann wird dies nicht dadurch erleichtert, dass sich kein einziger russischsprachiger und nur ein deutschsprachiger Vertreter (Stefan Donecker, der noch dazu über einen Randaspekt aus dem Bereich der Rezeption berichtet:The Chronicon Livoniae in Early Modern Scholarship: From Humanist Reception to the Gruber Edition of 1740“, S. 363–384) unter den Autoren befindet.

Ist der Band deswegen ein schlechtes Buch? Nein, sicher nicht. Er ist zwar weder Handbuch, noch Einführung oder Synthese, aber er ist ein guter Sammelband, den sogar liebevolle Details aus der Menge hervorheben. Neben einer hochwertigen Aufmachung zählen dazu Kurzvorstellungen der Autoren, ein Ortsnamensverzeichnis, welches die deutschen, englischen, estnischen und lettischen sowie in Einzelfällen russischen Bezeichnungen enthält, und vor allem eine kurze Einführung mit dem TitelHenry of Livonia. The Writer and His Chroniclevon James A. Brundage (S. 1–19). Brundage ist als Herausgeber und Übersetzer der englischsprachigen Edition des HCL ein ausgewiesener Experte, dem es gelingt, dem Leser eine erste Orientierung zu vermitteln. Freilich vermag diese die umfassendere Einleitung von Bauer in der deutschsprachigen Ausgabe des HCL nicht zu ersetzen, aber insbesondere die Aufmerksamkeit für die von Brundage als zentral erachteten Aspekte der Bekehrung zwischen Zwang und Freiwilligkeit und der Problematik bewaffneter Priester, spiegelt die Problemorientierung der aktuellen Forschung sehr gelungen wider (vgl. S. 12 ff.). Die Frage, wie Personen wie Heinrich, der als Priester offensichtlich aktiv an Kämpfen teilnahm, diese Verletzung kanonischen Rechts legitimierten, ist eines der zentralen Probleme bezüglich der Dekonstruktion von Heinrichs Erzählung. Brundage stellt diesbezüglich drei Lösungsansätze zur Debatte: 1. diese Kleriker entstammten meist Ministerialen und hatten alsfighting eliteschlicht eine hohe Affinität zum Kämpfen; 2. diese Kleriker glaubten sich selbst und ihre zum Glauben bekehrten Konvertiten nur so schützen zu können; oder 3. diese Kleriker hätten sich in einer langen Tradition von geistlichen Kämpfern und Heerführern gesehen, die aus den Kämpfen gegen Ungarn, Wikingern und Slaven früherer Jahrhunderte bekannt waren (Vgl. S. 18–19). Ergänzen könnte man als mögliche Erklärung noch, dass zumindest Heinrich, der dieses Problem als solches gar nicht wahrzunehmen scheint, im Gegensatz zu den ebenfalls kämpfenden Bischöfen Bertold und Albert theologisch und im kanonischen Recht doch recht wenig geschult war, und somit vielleicht überhaupt nicht wahrgenommen hat, gegen kirchliche Bestimmungen zu verstoßen.

Leider fehlt es dem Sammelband dann in den folgenden drei Teilen, die unter den etwas gezwungen wirkenden ÜberschriftenRepresentations,PracticesundAppropriations“ die Aufsätze ordnen, an ähnlichen Aufsätzen. Die folgenden Spezialuntersuchungen werden nicht durch vorbereitende, einordnende und zusammenfassende Artikel gestützt. Solcher hätte es jedoch in dem entsprechenden Konzept zwingend am Anfang und am Ende eines jeden Teils bedurft. Stattdessen bleiben die Aufsätze unverbunden und in ihrem Blick auf ihre eigenen, speziellen Aspekte im Umfeld des HCL beschränkt. Dies wäre für einen normalen Tagungsband in Ordnung, hier ist es aber zu wenig. Und auch wenn die Aufsätze wirklich spannende Themen anfassen (hervorzuheben sind aus den jeweiligen Teilen die Aufsätze Henry of Livonia and the Ideology of Crusadingvon Christopher Tyerman [S. 23–44],The Notion of a Missionary Theatre: the ludus magnus of Henry of Livonia’s Chroniclevon Nils Holger Petersen [S. 229–243] undThe Use and Useless of the Chronicle of Henry of Livonia in the Middle Agesvon Anti Selart [S. 345–361]) so ist doch auch hier zu bemängeln, dass diese nicht einmal mit kurzen, die prägnantesten Thesen nennenden Resümees versehen wurdenvon Summaries in Deutsch oder Russisch ganz zu schweigen.

Ein Abschnitt, der außer der Einleitung dem Konzept wieder gerecht wird, ist die abschließende Auswahlbibliographie. Diese setzt sich aus der in den Aufsätzen selbst benutzten Literatur zusammen. In den Aufsätzen selbst wiederum wird stets eine umfangreiche und gute Literaturarbeit betrieben, und so ist Umfang und Aussagekraft der Bibliographie entsprechend erfreulich. Sicher hätte man sich noch den einen oder anderen Titel aufgenommen gewünscht, aber abgesehen von dem nun gerade englischsprachigen und mit dem Wolfson History Prize ausgezeichneten WerkThe Making of Europe: Conquest, Colonization and Cultural Change, 950–1350“ (London 1993) von Robert Bartlett ist die Literatur so hinlänglich erfasst, dass ein vertieftes Studium auch für eine nur englischsprachige Leserschaft möglich ist.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass das vorliegende Werk ein guter Sammelband mit zahlreichen interessanten Aufsätzen ist, der Band aber die selbstgesteckten Ziele nicht erreicht und die dadurch geweckten Erwartungen nicht befriedigt.

Raoul Zühlke, Münster

Zitierweise: Raoul Zühlke über: Marek Tamm / Linda Kaljundi / Carsten Selch Jensen (eds.): Crusading and Chronicle Writing on the Medieval Baltic Frontier. A Companion to the Chronicle of Henry of Livonia. Burlington [etc.]: Ashgate, 2011. XXXVII, 484 S., 4 Ktn., Tab. ISBN: 978-0-7546-6627-1, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Zuehlke_Tamm_Crusading_and_Chronicle_Writing.html (Datum des Seitenbesuchs)

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