Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Raoul Zühlke

 

Die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn. Beiträge zum Neuaufbau des Königreichs nach der Türkenzeit. Hrsg. von Gerhard Seewann / Karl-Peter Krauss / Norbert Spannenberger. München: Oldenbourg, 2010. VI, 233 S., Tab., Abb. = Buchreihe der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa, 40. ISBN: 978-3-486-59750-9.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende Sammelband enthält zehn Aufsätze einer internationalen Konferenz, die 2008 in Pécs (Fünfkirchen) stattfand. Ziel der Tagung war, das für die moderne Geschichte Ungarns grundlegende 18. Jahrhundert näher vorzustellen und neue Forschungen anzuregen. Denn die Erforschung der Epoche Ungarns zwischen Türkenkriegen und Völkerfrühling im frühen 19. Jahrhundert ist bislang stiefmütterlich erfolgt. Ursächlich dafür sind auf internationaler Ebene sich widersprechende Narrative, die einem konstruktiven Umgang miteinander im Weg standen. Daher ist es als großer Erfolg zu werten, wenn die Organisatoren als gemeinsames Hauptergebnis der Konferenz festhalten können, dass sich die Teilnehmer darin einig zeigten, die Ansiedlung von Deutschen sei vorrangig aufgrund ökonomischer Überlegungen erfolgt und dies sei durch die Anfang des 18. Jahrhunderts einsetzende Agrarkonjunktur wesentlich befördert worden. Germanisierungsabsichten durch die Ansiedlungsbemühungen waren hingegen nach dem Urteil aller Autoren kein zentrales Anliegen.

Nach einen sehr informativen Vorwort, in dem Gerhard Seewann Zielsetzung und Hauptergebnis der Konferenz prägnant zusammenfasst, stellt sein Mitherausgeber Norbert Spannenberger betont zurückhaltend verschiedene Interpretationen der Ansiedlungspolitik des 18. Jahrhunderts in der österreichischen und ungarischen Historiographie (S. 5–40) vor. Er zeichnet sehr feinsinnig die große Asymmetrie nach, welche zwischen österreichischer und ungarischer Historiographie auszumachen ist. Während in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Ansiedlungspolitik in der Geschichtsschreibung mehrheitlich positiv wahrgenommen wurde, das Thema aber insgesamt wenig Beachtung fand, war ihm seit Beginn einer modernen ungarischen Historiographie stets „ein fester Platz mit einer eindeutigen [negativen] Konnotation sicher“ (S. 40). Und während das Thema mit entsprechender Wertung auch nach 1945 einen zentralen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses Ungarns darstellt, fristet es in Österreich ein wertneutrales Schattendasein.

Ernst Dieter Petritsch gibt anschließend eine solide Übersicht über die Besiedlung zwischen 1688/89 (Populationspatent Kardinal Leopold Kollonichs) und den späten siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Hauptaugenmerk liegt auf den Bestrebungen Karls VI. und seiner Tochter Maria Theresia. Als Gründe für die Ansiedlung deutscher Kolonisten nennt der Verfasser vor allem kameralistische, aber durchaus auch militärstrategische Überlegungen. Dafür wurde auch auf die Zwangsdeportation von Protestanten zurückgegriffen. So mussten etwa die Kärntner Protestanten ihre unmündigen Kinder zurücklassen, und es starb von den Deportierten ein Drittel bevor sie ankamen; ein weiteres Drittel verblieb vor Ort in Siebenbürgen zeitlebens in großer Armut.

Petritsch verdeutlicht ebenso wie Márta Fata, dass das Banat für die Habsburger die Rolle einer Muster-Provinz spielen sollte. Fatas Aufsatz sowie die folgenden drei Beiträge widmen sich alle ökonomischen Fragen. Fata arbeitet heraus, dass man sich von den deutschen Einwanderern in der josephinischen Regierungszeit (bis 1790) Modernisierungsimpulse erhoffte. Die Migration sollte nicht in erster Linie gesamtstaatlich-habsburgischen Interessen dienen (S. 78), sondern Motor für ungarische Reformen sein. Doch Durchsickerungseffekte blieben ihres Erachtens weitgehend aus, da die Landzuteilungen zu beschränkt waren und die allgemeine Robotablösung ausblieb. Positiver schätzen György Kurucz und Zoltán Kaposi in ihren Referaten die wirtschaftlichen Auswirkungen der Ansiedlung ein. Während Kurucz allerdings stärker makroökonomische Effekte durch die Kriege der Habsburger und nur für einzelne Regionen durch höhere Arbeitsbereitschaft und Effektivität der Siedler als ursächlich annimmt, spricht Kaposi von umfassenden wirtschaftlichen Folgen der Ankunft der Migranten, da diese zahlreiche neue Wirtschaftszweige und Tätigkeitsfelder etabliert hätten, zur erhöhten Steuerkraft beigetragen und Impulse für Modernisierungsprozesse geliefert hätten. Allerdings zeigt er an den Städten auf, dass die deutschen Siedler zwar einerseits „zur Etablierung eines Bürgertums, bürgerlicher Wertvorstellungen und Kultur“ beigetragen (S. 123), aber auch ihr starres Zunftsystem mitgebracht hätten, also ein Moment der Beharrung.

Dass diese Veränderungen nicht von Habenichtsen ausgelöst wurden, zeigt der dritte Mitherausgeber Karl-Peter Krauss in seinem fast 50-seitigen, quellengesättigten und sehr innovativen Aufsatz. Krauss bestreitet energisch und fundiert die bis in die Gegenwart kolportierte Vorstellung, ein Großteil der Migranten sei mittellos nach Ungarn gekommen und habe sich auf Kosten der einheimischen Bevölkerung bereichert. Krauss kann vielmehr beachtliche Kapitalzuflüsse offenlegen, nicht nur durch mitgebrachtes Hab und Gut, sondern auch durch erhebliche Kapitalzuflüsse in Folge von Erbschaften – Kapital, das vornehmlich für Investitionen genutzt wurde.

Den Abschluss des Sammelbandes bilden vier Beiträge zu kirchen- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen, bei denen Zoltán Csepregi Pietismus und Luthertum in Tolnau, Zoltán Gözsy die kanonischen Visitationen als Quelle zur Eingliederung der Kolonisten, Gábor Barna das Bedeutungsfeld von Wallfahrten und die Wiederbelebung von Gnadenorten bezüglich der zwischenethnischen Beziehungen und Katharina Wild schließlich die donauschwäbische Dialektentwicklung untersucht.

Die Stärke des liebevoll publizierten Sammelbandes liegt in dem erfolgreichen Bemühen aller Autoren um ein ausgewogenes, nicht in den Narrativen der eigenen Historiographie ge- und verfangenes Bild zu zeichnen.

Raoul Zühlke, Neuss

Zitierweise: Raoul Zühlke über: Die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn. Beiträge zum Neuaufbau des Königreichs nach der Türkenzeit. Hrsg. von Gerhard Seewann / Karl-Peter Krauss / Norbert Spannenberger. München: Oldenbourg, 2010. VI, 233 S., Tab., Abb. = Buchreihe der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa, 40. ISBN: 978-3-486-59750-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Zuehlke_Seewann_Die_Ansiedlung_der_Deutschen_in_Ungarn.html (Datum des Seitenbesuchs)

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