Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reivews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Raoul Zühlke

 

Die baltischen Kapitulationen von 1710. Kontext – Wirkungen – Interpretationen. Hrsg. von Karsten Brüggemann / Mati Laur / Pärtel Piirimäe. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. VI, 217 S. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 23. ISBN: 978-3-412-21009-0.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende Sammelband ist die Dokumentation der Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die im September 2010 in Dorpat (Tartu) stattgefunden hat. Die Einleitung der Herausgeber bietet neben Kurzvorstellungen der Aufsätze des Bandes auch eine erste inhaltliche Annäherung. So werden die Motive der Akteure bei Vertragsabschluss, die Auswirkungen der Verträge auf die rechtliche Stellung Livlands im russischen Imperium sowie ein Überblick über die verschiedenen Narrative und die daraus erwachsene Kontroverse bezüglich der Deutung der Kapitulationen im späten 19. Jahrhundert thematisiert. Insbesondere das Handeln Peters I. wird von den Verfassern als gleichermaßen propagandistisch wie pragmatisch interpretiert. So habe Peter durch die Akzeptanz einer historisch-rechtlichen Sonderstellung von Teilen seines Reiches dieses als „normal“ und „europäisch“ darstellen (S. 3) und gleichzeitig seinem Herrschaftsbereich ganz pragmatisch ein Beispiel für den von ihm angestrebten Europäisierungsprozess einverleiben können.

Der Aufsatz Europäische Kapitulationsurkunden: Genese und Rechtsinhalt (S. 17–42) von Jür­gen von Ungern-Sternberg ordnet die Kapitulationen von 1710 in einen europäischen Rahmen ein, indem von den baltischen Kapitulationen ausgehend in der Geschichte rückwärtsschreitend die Genese von Kapitulationen bis zum Zweiten Punischen Krieg untersucht wird. Dabei zeigt von Ungern-Sternberg, dass Kapitulationen nur in den seltensten Fällen einer rechtlichen (Selbst-)Vernichtung gleichkamen, sondern beiden Seiten Vorteile brachten (S. 36 ff.). Die militärisch überlegene Macht gewann Loyalität und Zeit, welche in Belagerung und Eroberung hätte investiert werden müssen, die unterlegene Seite erlangte „im Moment Sicherheit und für die Zukunft Rechtssicherheit“ (S. 38).

In dem Beitrag Die Kapitulationen von 1710 im Kontext der schwedischen Reichspolitik Ende des 17. Jahrhunderts (S. 43–64) legt Ralph Tuchtenhagen den Schwerpunkt auf die zuvor erfolgte Reduktions-, Inkorporations- und Schwedisierungspolitik und verschiebt dabei den Fokus von den baltischen Partikularinteressen zur reichsweiten schwedischen Provinzialpolitik. Er zeigt, dass die Maßnahmen der schwedischen Regierung im Baltikum im Vergleich zu anderen schwedischen Provinzen weder besonders hart noch ungewöhnlich waren. Nach der Lektüre dieser Ausführungen liegt der Schluss nahe, dass das eigentlich Ungewöhnliche die lange Zeit war, welche verstrich, bevor die schwedische Reichsregierung ernstzunehmende Integrationsmaßnahmen im Baltikum ergriff. Hierfür dürften die permanenten militärischen Anforderungen ursächlich gewesen sein, die mit der schwedischen Expansionspolitik einhergingen und die es den jeweiligen schwedischen Herrschern und ihren Beratern dringlicher erscheinen ließen, dass die baltische Ritterschaft loyal blieb, als dass die baltischen Provinzen ernsthaft zur Stärkung der schwedischen Macht beigetragen hätten. Als dann aber die Reduktion durchgeführt wurde, sanierte dies die schwedischen Finanzen „in einem Maße, das in der schwedischen Geschichte bis dahin unbekannt gewesen war“ (S. 57). Vorbildhaft an Tuchtenhagens Aufsatz ist der akribische Anmerkungsapparat, der den Leser detailliert in den schwedischsprachigen Forschungsstand einführt.

In dem Artikel The Capitulation of 1710 in the Context of Peter the Greats Foreign Propaganda (S. 65–86) geht Pärtel Piirimäe auf die Ziele ein, die Peters I. mit den Kapitulationen von 1710 für seine Außendarstellung verfolgte. Dabei widmet er sich hauptsächlich drei Fragen: erstens, inwieweit die Kapitulationen halfen, den Anspruch auf den Imperatortitel salonfähig zu machen; zweitens, wie mit Hilfe der Kapitulationen der faktische Besitz des Baltikums auch gegenüber dem polnischen Bündnispartner rechtlich angebahnt und abgesichert wurde, und drittens, wie Russland das Bild eines barbarischen Staates abstreifen und das Image eines traditionell-europäischen annehmen wollte. Hierfür war Peter bestrebt, den Kriterien eines gerechten Krieges zu genügen, was ihn jedoch nicht von der Zerstörung Dorpats 1708 abhielt (S. 86).

Einen hochinteressanten, aber auch kontroversen Artikel bietet Andres Andresen. In Der Systemwechsel in der Kirchenleitung Estlands nach 1710 und seine Bedeutung für ein Paradigma der deutschbaltischen Geschichtsschreibung (S. 87–117) setzt er sich mit der nicht nur in der deutschbaltischen Historiographie gängigen These der Rechtskontinuität durch die Kapitulationen kritisch auseinander. Ihm gelingen dabei wichtige Korrekturen des bisherigen Bildes. So kann er nicht nur massive Brüche in der Rechtswirklichkeit aufzeigen, sondern auch deren kontroverse Diskussion im 18. Jahrhundert dezidiert nachzeichnen. Die Verstöße gegen die Kapitulationen bei der Neuordnung der Kirchenleitung in Estland wurden in den drei Jahrzehnten nach 1710 hitzig diskutiert. Andresens Schlussfolgerungen darüber, warum die deutschbaltische Forschung diese Vorgänge ‚übersehen‘ habe, dürften aber strittig sein. Er vermutet, dies sei im 19. Jahrhundert absichtlich geschehen, um die Argumentationslinien – vor dem Hintergrund des Russifizierungsdrucks – nicht zu gefährden. Doch solch ein vorsätzliches Ignorieren von Befunden passt kaum zu den vom Positivismus beeinflussten Historikern dieser Zeit. Zudem argumentiert der Verfasser in einem Abschnitt nicht mit dem, was die von ihm analysierten Autoren geschrieben haben, sondern mit dem Eindruck, den die Leserschaft aus dem Geschriebenen hätte gewinnen müssen. (S. 110–111) Es drängt sich vermittelnd die Deutung auf, dass sich die kirchenpolitische Ordnung in den Jahrzehnten vor dem Großen Nordischen Krieg so stark veränderte, dass ihre Struktur als so wenig geschlossen angesehen wurde, dass weder die Zeitgenossen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch die Historiker im 19. (und 20.) Jahrhundert die weitere Ausgestaltung in jedem Falle als Vertragsbruch, als Verstoß gegen den Geist der Kapitulationen ansahen, wohl aber so sehen konnten, da ein Verstoß gegen den Wortlaut ohne Zweifel vorlag. Trotz dieses Kritikpunktes ist der Aufsatz von Andresen einer der herausragenden Beiträge der Publikation, der die wissenschaftliche Diskussion sicher voranbringt.

Aus der Perspektive der Kaiserin setzt sich Mati Laur in seinem Beitrag Katharina II. und die Kapitulationen von 1710 (S. 119–128) mit dem Sonderstatus des baltischen Landesstaates auseinander. Er zeigt auf, dass im Kontext absolutistischer Regierungsformen die Anomalie nicht der Versuch der Auflösung des Sonderstatus, sondern dessen Bestehen war. Nach Laur wurden durch den Regierungsantritt Katharinas II. die „Beziehungen zwischen St. Petersburg und den baltischen Provinzen“ nachhaltig ihrer Stabilität beraubt. (S. 121) Zwar scheine es so, als ob Katharina II. in der Bestätigung der Privilegien zunächst nur eine Routine gesehen habe, doch bald schon habe sie festgestellt, wie hinderlich diese Autonomie war. Trotzdem wurde erst durch die Übertragung der Statthalterschaftsverfassung auf Est- und Livland (1783) tatsächlich eine gewisse Einschränkung der Autonomie verwirklicht. Das Neue an der Politik Katharinas sieht Laur in der Prämisse, von den Interessen des Reiches als Ganzem auszugehen (S. 128). So sei die – das 19. Jahrhundert bestimmende – Pattsituation begründet worden, in „der der Zentralstaat eine engere Integration […] anstrebte, zugleich jedoch nicht bereit oder in der Lage war, die baltische Autonomie radikal aufzuheben“ (S. 128).

Altmeister Gert von Pistohlkors zeichnet in seinem Beitrag „Alte Ruinen“ (Julius Eckardt) oder Garanten einer zeitgemäßen praktischen Politik? Zur Interpretation der Livländischen Privilegien von 1710/21 vor der „Russifizierung“ (1841 bis 1885) (S. 129–151) den Konflikt zwischen Konservativen („Reformfeinden“ oder „Intransigenten“) und Reformern nach. Es gelingt ihm, sowohl die inneren deutsch-baltischen Konfliktlinien als auch die wachsende Verständnislosigkeit der Provinzialpolitiker gegenüber den Russifizierungsbestrebungen und auf der anderen Seite dem anschwellenden lettischen und estnischen Nationalismus darzulegen.

Der Artikel Die baltischen Kapitulationen von 1710 und die Gesetzbücher des 19. Jahrhunderts (S. 153–182) von Marju Luts-Sootak beschließt sodann die Reihe derjenigen, die sich im engeren Sinne mit den baltischen Kapitulationen auseinandersetzen. Man hätte es der Autorin und dem Sammelband gewünscht, dass ihr Aufsatz an zweiter Stelle zu lesen gewesen wäre, denn die ersten 15 Seiten ihrer klugen Darlegung bieten eine gelungene Einführung in die Capitulations- bzw. Accords-Puncta der verschiedenen Kapitulationen von 1710. Im zweiten Teil ihres Aufsatzes erläutert Luts-Sootak dann, wie diese Basis ab 1846 einmal in Richtung der Stärkung der Vorrechte der Ritterschaft, einmal in Richtung der Aufhebung derselbigen umgestaltet bzw. „inhaltlich entleert“ wurde (S. 181).

Den Abschluss bilden zwei komparatistische Artikel mit Schwerpunkt auf den Verhältnissen in Finnland nach 1809. Lars Björne präsentiert Finnland 1809 – und die Entwicklung danach: Versuch einer kurzen Rechtsgeschichte (S. 183–193), und Robert Schweitzer erörtert die Frage Vorbild oder Auslaufmodell? Die Bedeutung der Kapitulationen und der Autonomie der Ostseeprovinzen für die Autonomie Finnlands im Russischen Reich (S. 195–206). Beide Beiträge fallen leider dadurch auf, dass ihr Vortragscharakter beibehalten wurde. Es stellt sich somit die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, diese beiden Artikel an einem anderen Ort zu publizieren. Ein Sammelband sollte nicht vorrangig der Dokumentation einer Tagung dienen. Aber auch wenn dieser Band dies vorrangig macht – seine Lektüre lohnt sich allemal.

Raoul Zühlke, Neuss

Zitierweise: Raoul Zühlke über: Die baltischen Kapitulationen von 1710. Kontext – Wirkungen – Interpretationen. Hrsg. von Karsten Brüggemann, Mati Laur und Pärtel Piirimäe. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. VI, 217 S. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 23. ISBN: 978-3-412-21009-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Zuehlke_Brueggemann_Die_baltischen_Kapitulationen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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