Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Georg Wurzer

 

Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2012. 377 S. = Studien zur historischen Migrationsforschung, 25. ISBN: 978-3-506-77335-7.

Der junge Historiker und Bibliothekar Christian Westerhoff, heute frischgebackener Direktor der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart, hat diese Untersuchung Ende des Jahres 2009 als Dissertation an der Universität Erfurt eingereicht.. Er hatte sich vorgenommen, ein Thema zu untersuchen, das bisher in der Forschung wenig Beachtung gefunden hat, nämlich die freiwillige und erzwungene Heranziehung von Bewohnerinnen und Bewohnern der deutsch besetzten Gebiete des Russischen Reiches zur Arbeit in Deutschland und vor Ort während des Ersten Weltkriegs.

Nach einer Einleitung mit einem ausführlichen Forschungsbericht und der Formulierung der Fragestellung gibt er im zweiten Kapitel einen informativen Überblick über die Beschäftigung von Arbeitskräften aus Russland in Deutschland 1906 bis 1918. Dann stellt er die beiden Verwaltungseinheiten, die er untersucht, vor, das zivil verwaltete Generalgouvernement Warschau (GGW) und das unter Führung des Militärs stehende Verwaltungsgebiet des Oberbefehlshabers Ost (Ober Ost), das Gebiete im Baltikum (Kurland, Litauen) und um Białystok-Grodno umfasste.

Im Weiteren kommt er zu seinem eigentlichen Untersuchungsgegenstand, wobei er chronologisch vorgeht und dabei der in der Forschung etablierten Einteilung der Phasen der deutschen Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg folgt: 1. Herbst 1914 bis Sommer 1916, 2. Herbst/Winter 1916 und 3. Frühjahr 1917 bis Herbst 1918. Dabei wird in der Literatur angenommen, dass auf eine Phase relativer Freiwilligkeit eine Periode verschärften Zwangs folgte, der nach Protesten aus dem In- und Ausland zurückgenommen wurde.

Dieses Modell wurde am Vorbild der Arbeitskräftepolitik im Generalgouvernement Belgien entwickelt, das in der Forschung bislang weit mehr Aufmerksamkeit erweckt hat als der Osten. Westerhoff zeigt eindringlich auf, dass diese Phaseneinteilung auf das GGW cum grano salis angewandt werden kann; in Ober Ost dagegen wurde schon früher zu Zwangsmaßnahmen gegriffen und diese wurden später dann nicht einmal halbherzig revidiert.

Westerhoff vertritt überzeugend die Annahme, dass eine Erschöpfung des freien Arbeitsmarktes dazu führt, dass Wirtschaft und Politik Zuflucht zu Zwangsmaßnahmen suchen. Er weist nach, dass während im GGW die Gewinnung von Arbeitskräften für das Deutsche Reich im Vordergrund stand (und zu diesem Zweck die einheimische Industrie als Konkurrentin um Facharbeiter systematisch ruiniert wurde), in Ober Ost eine ganz spezifische Situation herrschte. Die Schilderung der Politik der Militärs in diesem Gebiet ist der Teil des Werkes, der Leserinnen und Leser am meisten in den Bann schlägt. Zunächst Hindenburg und Ludendorff, später ihre Nachfolger sahen in Ober Ost gewissermaßen einLaboratorium, in dem sie mit Kommandomethoden eine Art Musterstaat aufbauen wollten. Dazu versuchten sie nicht nur, die Einwohnerinnen und Einwohner vor Ort zu Dienstleistungen maximal auszupressen; es wurden sogar Arbeitskräfte aus dem GGW dorthin verbracht.

Eine besondere Komponente erhielt Ober Ost noch durch seine Vielfalt an Völkern, wobei die Behandlung der Juden angesichts des bei den Machthabern notorischen Antisemitismus eine besondere Gestalt annahm. Gerade den Juden räumt Westerhoff zu Recht einen besonderen Platz in seiner Untersuchung ein. Generell kann er nachweisen, wie Vorurteile im Dienste der Politik instrumentalisiert wurden, so die angebliche Arbeitsscheu aller Bewohner des Ostens im Allgemeinen und der Juden im Besonderen.

Dabei steht für den Autor mehr die Politik von oben, als die Leiden der Betroffenen im Vordergrund. Dennoch kann er die hoffnungslose Lage der Verschleppten und zur Zwangsarbeit Gezwungenen gut vermitteln.

Im Fazit und Ausblick greift er die umstrittene Frage auf, inwieweit man dem Historiker Ulrich Herbert folgen kann, der in der deutschen Arbeitskräftepolitik während des Ersten Weltkriegs einenProbelauffür das im Zweiten Weltkrieg praktizierte, unvergleichlich grausamere Zwangsarbeitssystem sah. Westerhoff vertritt die Ansicht, dass man weniger von einem konkreten Lernprozess der Entscheidungsträger, als von einem allgemeinenErfahrungshorizontder Zwangsarbeit sprechen kann.

Westerhoff stützt sich in erster Linie auf Verwaltungsberichte der deutschen Amtsträger. Eine kritische Würdigung dieser Quellengattung wäre angebracht gewesen.

Insgesamt vermag die Untersuchung dennoch zu überzeugen.

Georg Wurzer, Tübingen

Zitierweise: Georg Wurzer über: Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2012. 377 S. = Studien zur historischen Migrationsforschung, 25. ISBN: 978-3-506-77335-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wurzer_Westerhoff_Zwangsarbeit_im_Ersten_Weltkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)

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