Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Georg Wurzer

 

M. V. Škarovskij: Russkaja Pravoslavnaja cerkov v XX veke. [Die russisch-orthodoxe Kirche im 20. Jahrhundert.] Moskva: Veče, 2010, 480 S., Abbildungen.  ISBN: 978-5-9533-2963-7.

Der Ehrgeiz dieses Werkes wird bereits aus seiner prachtvollen Ausstattung ersichtlich. Es ist überdies mit dem Segen der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats und des Erzbischofs von Volokolamsk, Ilarion, als Gemeinschaftsprojekt des konservativen Verlags Veče mit dem rein religiösen Verlag Lepta in Moskau erschienen. Sein Verfasser, M. V. Škarovskij, ist schon mit einer Vielzahl von einschlägigen Veröffentlichungen hervorgetreten, und als leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentralen Staatlichen Archivs von Sankt Petersburg hatte er Zugang zu einer Reihe von Archiven wie dem Präsidentenarchiv in Moskau, von dem westliche Forscherinnen und Forscher nur träumen können.

In seinem Vorwort gibt er einen Überblick über die bisher erschienenen Arbeiten zum Thema, die er sehr kritisch würdigt. Etwas sonderbar erscheint aber, dass diese Untersuchungen eine wesentliche Informationsbasis seines eigenen Buches darstellen. Dabei zieht er die in Fremdsprachen erschienenen Werke nur in Ausnahmefällen heran, nutzt aber die Emigrantenliteratur sehr ausführlich. Daneben stützt er sich auf Dokumente aus einer beinahe unglaublichen Vielfalt von Archiven.

In den ersten beiden Kapiteln betrachtet der Autor  die Geschichte der Kirche vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten. Dabei geht er streng chronologisch vor. Im Vordergrund stehen die Beziehungen der offiziellen Kirche zum Staat; andere Aspekte wie die Volksfrömmigkeit treten dagegen in den Hintergrund. Škarovskij verschweigt den Leserinnen und Lesern zwar keineswegs die unheilvolle Verquickung der Orthodoxie mit dem Zarismus vor 1917, kann aber letztendlich den Sieg der atheistischen Bolševiki in einem früher vermeintlich tiefreligiösen Land nicht ausreichend erklären. Seine Darstellung ist außerordentlich materialreich, teilweise geht die Lektüre durch die große Menge der Beispiele und Aufzählungen deshalb sehr schleppend voran.  Die Grundthese des Autors ist, dass die Kirche in ihrem Kern die Vernichtungsfeldzüge der Herrscher unbeschadet überstanden habe. Immer wieder zitiert er Statistiken über die nach wie vor vorhandene große Zahl an Gläubigen und Gemeinden. Für den Zweiten Weltkrieg zählt er eine Vielzahl von Priestern auf, die sich im Partisanenkampf für das Vaterland ausgezeichnet hätten. Was die Situation in den von den Deutschen beherrschten Gebieten angeht, so überwiegen auch hier Beispiele des Widerstands; Kollaborateure werden höchstens am Rande erwähnt. Demgegenüber fasst sich Škarovskij bei der Beschreibung der großen Wende Stalins in der Kirchenpolitik im Jahr 1943 leider verhältnismäßig kurz. Zutreffend hebt er das strategische Kalkül Stalins hervor, dem sich die Kirche, offenbar aus Patriotismus, willig unterwarf.

Das dritte Kapitel über den kirchlichen Widerstand in der UdSSR ist demgegenüber schon flüssiger und teilweise sogar interessant zu lesen. Hier stellt Škarovskij die einzelnen oppositionellen Strömungen innerhalb der Orthodoxie dar. Bei der  Ergründung der Motive für die Abweichungen von der offiziellen Linie der Kirche spart er auch in überzeugender Weise nicht mit Kritik am Moskauer Patriarchat. Die Vielzahl von Sekten und Abspaltungen kann er übersichtlich präsentieren.

Der anschließende vierte Teil betrachtet das Agieren des Moskauer Patriarchats auf der internationalen Ebene von 1945 bis heute. Hier wird deutlich, wie sehr sich die Orthodoxie in den Dienst der Machthaber stellen ließ, auch in Zeiten schärfster Verfolgungen. Škarovskij motiviert dies so, dass die Kirchenoberen sich durch ihre Willfährigkeit praktisch unentbehrlich für den Staat hätten machen wollen, eine Strategie, die letztendlich nicht aufgegangen sei. Man erfährt, dass die Kirche, angeblich widerwillig, die sowjetischen Interventionen in der Tschechoslowakei und in Afghanistan billigte.

Die beiden letzten Kapitel, die wieder die chronologische Vorgehensweise aufnehmen, haben erneut primär das Verhältnis von Staat und Kirche zum Gegenstand, diesmal für die Zeit von 1945 bis in die Gegenwart. Sie sind jedoch weit besser zu lesen als die ersten beiden, da der Autor stringenter argumentiert und über die teilweise bloße Aneinanderreihung von Fakten hinaus auch die Motive der Parteioberen und ihre internen Meinungsverschiedenheiten analysiert. Die Herrschaft Chruschtschows war für die Kirche trotz des offiziellen Tauwetters eine Zeit der scharfen Verfolgung – sie hatte in den Augen der Regierenden keinen Platz in der in naher Zukunft zu erbauenden kommunistischen Gesellschaft. Unter Breschnew wurde diese Politik zurückgeschraubt, an den Intentionen habe sich jedoch nichts geändert. Etwas überraschend ist die Feststellung, dass auch Gorbačev lange Zeit eine scharf kirchenfeindliche Politik betrieb. Auch hier behauptet der Verfasser trotzig das Überleben einer breiten Schicht von Gläubigen, was von anderen Beobachtern, die das weitgehende Verschwinden religiöser Themen aus dem Bewusstsein der Masse der Bevölkerung diagnostizierten, nicht geteilt wird.

Der letzte Paragraph über die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion kommt der Beschreibung eines triumphalen Siegeszuges der Religiosität im Lande nach 1991 gleich, wobei Škarovskij selbst auf die Oberflächlichkeit vieler Bekenntnisse hinweist. Die Bevorzugung der Orthodoxie gegenüber anderen Konfessionen durch den Staat erwähnt er hingegen nicht.

Zusammenfassend soll noch einmal die überwältigende Materialfülle des Werkes hervorgehoben werden. Aus diesem Grund und auch wegen seines quasi-offiziösen Charakters  ist es für Kirchenhistoriker eine gewinnbringende Lektüre.  Wegen seiner schlechten Lesbarkeit ist es aber selbst für sprachkundige Nichtfachleute wenig geeignet.

Georg Wurzer, Tübingen

Zitierweise: Georg Wurzer über: M. V. Škarovskij: Russkaja Pravoslavnaja cerkov’ v XX veke [Die russisch-orthodoxe Kirche im 20. Jahrhundert], Moskva: Veče, 2010, 480 S., Abbildungen. ISBN: 978-5-9533-2963-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wurzer_Skarovskij_Pravoslavnaja_Cerkov.html (Datum des Seitenbesuchs)

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