Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Georg Wurzer

 

Annemarie H. Sammartino: The Impossible Border. Germany and the East 1914–1922. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2010. XIV, 232 S., 3 Ktn., Abb. ISBN: 978-0-8014-4863-8.

In diesem Werk unternimmt eine Historikerin der jüngeren Generation, Associate Professor am Oberlin College (Ohio, USA), den Versuch, den Ersten Weltkrieg und die folgende Nachkriegskrise in Deutschland bis 1922 unter dem Aspekt von „Grenzsetzung“ zu erforschen. Durch den Vertrag von Versailles sei die traditionelle Übereinstimmung von Nation und Staat durch eine „unmögliche Grenze“ abgelöst worden. Verschiedene Aspekte des letztlich gescheiterten Bestrebens, diese Grenze neu zu ziehen, werden in acht Kapiteln untersucht.

Das erste Kapitel über den Ersten Weltkrieg vermag unter verschiedenen Gesichtspunkten am wenigsten zu überzeugen. So ist der Überblick zu kursorisch, und die Autorin stützt sich bei ihren Ausführungen im Wesentlichen nur auf die englischsprachige Literatur. Dazu kommen einige Formulierungen, die Missverständnisse hervorrufen können, beispielsweise die Bemerkung, der Krieg an der Ostfront sei ein klassischer Bewegungskrieg gewesen, oder die Aussage über den Sommer 1915, „further south, Entente forces pushed the Russians out of Galicia“ (S. 28). Jedoch gelingt es der Autorin trotzdem, eine Basis für ihre weiteren Ausführungen zu schaffen.

Für sämtliche weiteren Kapitel hat Sammartino eine erstaunliche Fülle von archivalischen und gedruckten Quellen sowie Literaturtiteln in deutscher Sprache rezipiert. Ihre Argumentation ist vorbildlich und vermag eine interessierte Leserschaft zu fesseln.

Dies gilt sowohl für die Darstellung der Freikorps, deren Mitglieder sogar bereit waren, die Staatsbürgerschaft baltischer Staaten anzunehmen, um die Errungenschaften der deutschen Ostsiedlung zu bewahren, als auch für die Behandlung der sozialistischen Kolonisten in der Sowjetunion, die dort ihre Utopie eines Internationalismus verwirklichen wollten und kläglich scheiterten. Trotz der bis zum Äußersten angespannten Ressourcen des Deutschen Reiches wurden ethnische Deutsche aus Polen nach 1919 im Reich bereitwillig aufgenommen, was eine Staatsgrenzen überschreitende völkische Konzeption der deutschen Identität für diese Zeit belegen soll (Kapitel 4).

Die letzten vier Kapitel in der zweiten Hälfte des Buches hängen sehr eng miteinander zusammen. Zunächst macht die Verfasserin deutlich, welche Ängste der Überflutung (zu der tieferen Bedeutung dieser Metapher sei auf die Ausführungen Klaus Theweleits in seinem Klassiker „Männerphantasien“ verwiesen) die nichtdeutschen Einwanderer, in erster Linie Russen und Ostjuden, auslösten, die über die schlecht bewachten Grenzen im Osten ins Reich strömten. Sehr ansprechend ist auch das folgende Kapitel über ein bisher wenig erforschtes Thema, nämlich die russischen Kriegsgefangenen in Deutschland nach 1918. (Der kürzlich vorgelegte Versuch von Oksana Nagornaja: Drugoj voennyj opyt. Moskau 2010, kann wissenschaftlichen Maßstäben leider nicht genügen). Sammartino weist hier wie in Kapitel 8 über die russischen Emigranten eingängig nach, wie sich die ethnischen Grenzen zugunsten einer antibolschewistischen Solidarität der deutschen Rechten mit den „weißen“ Russen auflösten. Das gleiche galt für die Angst vor einem Bündnis bolschewistischer Russen mit deutschen Spartakisten. Die Beschreibung des Diskurses über die Einbürgerungspraxis Anfang der zwanziger Jahre (Kapitel 7) erinnert auffällig an heutige Debatten. Hier macht die Autorin klar, dass es auch liberale Strömungen innerhalb des deutschen Staatsapparates gab, v.a. im sozialdemokratisch regierten Preußen. Diese hielten eine Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an ethnische Nichtdeutsche, die ihre Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis bewiesen hatten, für möglich.

In ihrem Schluss zieht Sammartino ein überzeugendes Resümee, auch wenn man ihren Überlegungen vom Nationalsozialismus als einer Folge der Ambivalenz der Rechten gegenüber den deutschen territorialen Grenzen in dieser Einfachheit nicht zustimmen kann.

Summa summarum handelt es sich bei dieser Untersuchung, sieht man von den erwähnten Desiderata v.a. im ersten Kapitel ab, um eine bemerkenswerte Leistung, die in ihrer Argumentation uneingeschränkt überzeugt. Die „unmögliche Grenze“ war sicher eines der frühen Probleme und eine der Ursachen des letztendlichen Scheiterns der ersten deutschen Republik von Weimar.

Georg Wurzer, Tübingen

Zitierweise: Georg Wurzer über: Annemarie H. Sammartino: The impossible border. Germany and the East 1914–1922. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2010. XIV, 232 S., 3 Ktn., Abb. ISBN: 978-0-8014-4863-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wurzer_Sammartino_The_impossible_border.html (Datum des Seitenbesuchs)

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