Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Georg Wurzer

 

Dmitrij D. Frolov: Sovetsko-finskij plen 1939–1944. Po obe storone koljučej provoloki [Sowjetisch-finnische Gefangenschaft 1939–1944. Auf beiden Seiten des Stacheldrahts]. S.-Peterburg: Aletejja, 2009. 639 S., Tab., Abb. ISBN: 978-5-91419-199-0.

Der wichtigste Eindruck dieses Werkes über die Gefangenschaft von Finnen und Sowjetbürgern während des Winterkrieges 1939/1940 und des Zweiten Weltkrieges, in den Finnland kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion eintrat und 1944 ausschied, ist die fast unglaubliche Detailkenntnis des Autors.

Nach einer ausführlichen Übersicht über den Stand der Forschung im ersten Kapitel setzt sich Frolov kurz mit dem rechtlichen Status der Kriegsgefangenen auseinander, wobei er sich im Wesentlichen auf die normativen Akte Russlands bzw. der Sowjetunion konzentriert. Zutreffend verweist er auf die Bedeutung der Erfahrungen, die die Rote Armee beim  Einmarsch in Polen 1939 und der damit verbundenen Gefangennahme einer größeren Zahl polnischer Armeeangehöriger gesammelt hatte, für die Organisation und Praxis der Gefangenenbehandlung in der von ihm bearbeiteten Periode. Das Kapitel drei umfasst mehr als 150 Seiten und behandelt nach einem kurzen allgemeinen Überblick über den Winterkrieg und die finnische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg, der in Finnland der „Fortsetzungskrieg“ genannt wird - diesen Ausdruck übernimmt der Verfasser - einige wesentliche Aspekte der konkreten Lebensbedingungen der Gefangenen.  So finden die Fragen der Umstände der Gefangennahme, des Verhörs an der Front und der Situation in den Lagern wie die Verpflegung oder der Tagesablauf Berücksichtigung. Ausgewogen berichtet Frolov von der Tötung Gefangener auf beiden Seiten. Die Kapitel vier und fünf haben die medizinische Betreuung und den Arbeitseinsatz der Gefangenen zum Gegenstand. Nach einem Abschnitt, der die Möglichkeiten des geistigen Lebens im Lager behandelt und hauptsächlich Schwierigkeiten der sowjetischen bzw. finnischen Propaganda unter den Gefangenen thematisiert, betrachtet der Verfasser den schwierigen Weg seiner Protagonisten nach Hause und ihre Aufnahme in der Heimat. Eindrücklich führt er das harte Schicksal der sowjetischen Heimkehrer nach dem Winterkrieg vor Augen. In seinem Schlusskapitel versucht er, beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dem folgen insgesamt 25 Anhänge, wobei hier zu fragen wäre, ob nicht eine Beschränkung auf eine geringere Zahl der Lesbarkeit des Werkes gedient hätte.

Frolov kennt die finnischen Gefangenen zum großen Teil mit ihren persönlichen Namen, auch ihre sowjetischen Leidensgenossen sind ihm ausgezeichnet vertraut. Je mehr er sich aber von dem konkreten Schicksal der sowjetischen und finnischen Gefangenen entfernt, desto eher sind Unzulänglichkeiten festzustellen. So erwähnt er auf Seite 42 einen Anteil von Sterbefällen unter den Gefangenen aus den Ländern der Entente von 10 % für den Ersten Weltkrieg. Dass aber im Russischen Reich in dieser Zeit, wie neuere Forschungen ergaben, ca. 20 % der Soldaten aus Österreich-Ungarn den Deutschen Reich zu Grunde gingen, findet keine Berücksichtigung. Offizielle deutsche Quellen sprachen nach 1918 sogar von über 60 % Verstorbenen und Verschollenen.

Was die Lesbarkeit des Werkes erheblich erschwert ist die umständliche Systematik des Autors. Für jeden einzelnen Aspekt betrachtet er zunächst die finnische Seite, dann die sowjetische im Winterkrieg, dann beide Kriegsgegner im Fortsetzungskrieg. Im nächsten Absatz springt er wieder zum Winterkrieg. Dies ist der Hauptmangel des Buches: Der Verfasser will einfach zu viel, wenn er anstrebt,  beide Kriege in allen ihren Facetten abzudecken. Dadurch überfordert er die Aufmerksamkeit der Leserschaft.

Beeindruckend erscheint die lange Liste der Archivalien und der Literatur, auch in finnischer Sprache, die Frolov bearbeitet hat. Hoffentlich konnte der Autor diese Quellen auch hinreichend ausschöpfen und richtig interpretieren, was bei solchen internationalen Projekten nicht immer der Fall ist (vgl. meine kürzlich in der „Militärgeschichtlichen Zeitschrift“ erschienene Rezension über das Buch von Oksana Nagornaja: Drugoj voennyj opyt. Moskau 2010, zur Gefangenschaft von Russen in Deutschland im Ersten Weltkrieg). Wer die Ausdauer besitzt diese umfangreiche Untersuchung bis zum Ende zu lesen, wird mit wesentlichen Einblicken in das Thema belohnt, die Relevanz auch über den begrenzten geographischen Rahmen hinaus beanspruchen können.

Georg Wurzer, Tübingen

Zitierweise: Georg Wurzer über: Dmitrij D. Frolov: Sovetsko-finskij plen 1939–1944. Po obe storony koljučej provoloki [Sowjetisch-finnische Gefangenschaft 1939–1944. Auf beiden Seiten des Stacheldrahts]. S.-Peterburg: Aletejja, 2009. 639 S., Tab., Abb. ISBN: 978-5-91419-199-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wurzer_Frolov_Sovetsko-finskij_plen.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Georg Wurzer. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.