Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo-ereviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Isabella Woldt

 

Horst Bredekamp / Wladimir Velminski (Hrsg.): Mathesis & Graphé. Leonhard Euler und die Entfaltung der Wissenssysteme, Berlin: Akademie Verlag, 2010, 293 S., ISBN: 978-3-05-004566-5.

Inhaltsverzeichnis:

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In dem vorliegenden Band präsentiert Horst Bredekamp zusammen mit Wladimir Velminski die Ergebnisse eines Symposiums über den frühneuzeitlichen Mathematiker Leonhard Euler, das anlässlich dessen 300. Geburtstags zusammen mit einer Ausstellung 2007 an der Berliner Humboldt-Universität stattfand. Die Autoren der einzelnen Beiträge untersuchen in Leonhard Eulers Werk die Geschichte der Einführung bildhafter Strukturen als Wissensvermittler in die Mathematik. Dem Haupttitel „Mathesis & Graphé“ folgend, geht es in diesem Buch explizit um die Frage nach der Projektion abstrakter mathematischer Zahlenformeln in die Bildformationen und umgekehrt. Den gesamten Band begleitet stets die Frage nach der Rolle des Sehvermögens bei der Herstellung formaler Zeichenkonstellationen zur Berechnung räumlicher Modi. Es wird gefragt, inwiefern es überhaupt möglich ist, über Raum zu sprechen ohne ihn mittels sinnlicher Wahrnehmung durch das Auge zu erzeugen. Die Mathematik, die zu Beginn des 18. Jh. immer noch über keine einheitliche „Sprache“ verfügte, bildet eine grundlegende Plattform, um diesen Problemen nachzugehen, und Euler sei derjenige gewesen, der die neue Zeichenpraktiken für die Mathematik versuchte zu etablieren (S. 7). So hat er seine mathematischen Berechnungen in Zahlen mit Schemata, symbolhaften Formeln, Graphemen und Zeichenkonstruktionen begleitet. In den Beiträgen werden diese vornehmlich über fachspezifische Fragestellungen und Erläuterungen der Mathematik beziehungsweise ihrer Disziplingeschichte erläutert: z. B. bezüglich der Berechnung und Darstellung der Unendlichkeit in der Mathematik, der Differentialgleichung bzw. des Verhältnisses zwischen Mathematik und der Musiktheorie (E. Knobloch). Die Musiktheorie wird zu Anfang gleich zusammen mit einigen Faksimile-Seiten aus Eulers persönlichem Tagebuch vorgestellt. Darin hat der Mathematiker den Versuch unternommen, „die akustischen Wahrnehmungsvorgänge einer gesetzmäßigen Grafik zu unterziehen“, und zwar im Kontext der pythagoreischen Harmonielehre (S. 39). Durch eine Punktereihung auf einer Geraden wird der musikalische sinnliche Genuss in eine schematische Zeichenformation überführt, so dass der Sinneseindruck der Musik in einem Zeichen seine Entsprechung findet. Der Ansatz des Buches, die „Remodellierung von Wahrnehmungsmustern sozialer und kultureller Konstruktion von Wirklichkeit“ in den Beiträgen zu schildern, erfolgt eigentlich nur im Hinblick auf das Topos des blinden Mathematikers (S. 17). Zentral ist dabei die Relation des „Sichtbaren“ und des „Denkbaren“, d. h. die Umsetzung des sichtbar Räumlichen auf das Denkbare in abstrakten Formeln, wodurch eine Transformation des Denkbaren mit Zahlen und Zeichen in sichtbare Gegenstände gelingen soll. Für die Erläuterung werden auch historische Persönlichkeiten der Disziplin wie der ebenfalls blinde Mathematiker Nicholas Saunderson (16821739) bemüht (P. Bexte). Ansonsten widmen sich die Autoren eher der symbolhaften Sprache der Zahlen, und die ist vielmehr eine rein abstrakte universelle Sprachform, welche mit den jeweiligen soziokulturellen Milieus von Preußen oder Russland, wo Euler tätig war, wenig zu tun hat (B. Mahr / W. Velminski; M. Bullynck; M. Matt­müller). Wesentlich stärker und präziser kommt gerade Eulers Konstruktion von Wissenssystemen zur Geltung, um die Vermittlung von Wissensgehalt mittels mathematischer Umformungen, in denen der Mathematiker „einen genuin epistemologisch-experimentellen Prozess, ein tastendes Weiterführen gesicherter Erkenntnisse“ sah (H. Bre­dekamp / W. Velminski, S. 11). Dazu gehört z. B. das Brückenproblem und die grafischen Lösungen, die Euler vorgeschlagen hat. Zur Analyse gelangen hier Eulers Zeichnungen, die die Lösung veranschaulichen und aufzeigen, in welcher Form räumliches Wissen und räumliche Wahrnehmung in Zahlen und Buchstabenkonstellationen transferiert werden können, wodurch ein genuin neues Wissenssystem konstituiert wird (B. Mahr / W. Velminski). Spannende Diskussion wird sodann im Kontext von Eulers Kartographie aufgefächert. Denn hier rückt das Buch stark in die Nähe der aktuellen bildwissenschaftlichen Fragen nach der Umsetzung räumlicher Dreidimensionalität in eine zweidimensionalen Karte, eindringlich spannend angesichts der Blindheit von Leonhard Euler (G. Meynen).

Dieses Buch baut letztlich am historischen Fundament der Wissenschaftsgeschichte der Mathematik, aber es leistet mehr, indem es einen wertvollen Beitrag für die Fragen der Bildwissenschaft im historischen Kontext liefert. Der kulturhistorische Anspruch bzw. der angestrebte Ansatz, die Wandlung kultureller und sozialer Konstruktion in diesem Zusammenhang dazulegen, wird hier meines Erachtens nur eingeschränkt realisiert, denn die St. Petersburger Akademie, an der Euler einen optimalen Hintergrund für seine Studien fand, war mit dem multinationalen und multilingualen Zarenhof eng verbunden. Die Akademie war von Zar Peter dem Großen als hochqualifizierte Wissensstätte gegründet worden, an der auch Leibniz, nach einem gescheiterten Versuch in Preußen, einen Platz für seine Kunstkammer fand (H. Bredekamp / W. Vel­minski). Dabei war es gerade Euler, der der Leibnizschen Monadenlehre den Kampf ansagte und in einer Reihe von Schriften deutlich gegen sie argumentierte (E. Knobloch; H.-P. Neumann). Die Stärke der Beiträge liegt eindeutig in der Darstellung des Prozesses der Etablierung einer universellen „Sprache“ der Mathematik in Zeichenpraktiken. Die sich zuweilen einschleichende Ungleichmäßigkeit im Buchaufbau zeigt sich am Schluss in einem Bild­essay (J. Strauss), der etwas unvermittelt wirkt, es sei denn man brächte ihn mit dem darunter fortlaufenden imaginären Interview mit Euler (E. Knobloch) in Verbindung; dann wäre das im Essay mittels Computeranimation modellierte Porträt des Gelehrten als dessen Selbstreflexion zu werten.

Isabella Woldt, Hamburg

Zitierweise: Isabella Woldt über: Horst Bredekamp / Wladimir Velminski (Hrsg.): Mathesis & Graphé. Leonhard Euler und die Entfaltung der Wissenssysteme, Berlin: Akademie Verlag, 2010, 293 S., ISBN: 978-3-05-004566-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Woldt_Bredekamp_Mathesis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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