Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Martina Winkler

 

Edvard Beneš – Vorbild und Feindbild. Politische, historiographische und mediale Deutungen. Hrsg. von Ota Konrád und René Küpper. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 306 S. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 129. ISBN: 978-3-525-37302-6.

Inhaltsverzeichnis:

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Edvard Beneš gehört nicht unbedingt zu den favorisierten Figuren in der bohemistischen Historiographie. Die ab und zu erscheinenden Darstellungen des Forschungsstandes zum Außenminister und dann Präsidenten der Ersten Tschechoslowakischen Republik (so beispielsweise der 2003 von Arnold Suppan und Elisabetz Vyslonzil publizierte Sammelband) vermitteln denn auch zuweilen den Eindruck, es handle sich um eine Art Pflichtübung – Beneš war zweifellos ein bedeutsamer Politiker, also kann die Historiographie ihn nicht vollständig vernachlässigen. Ein wenig von dieser Hilflosigkeit ist auch dem nun von Ota Konrád und René Küpper edierten Band anzumerken. Die darin versammelten Aufsätze bieten ein äußerst vielfältiges und oft spannendes Kaleidoskop, das Benešs innen- wie außenpolitische Tätigkeit abbildet. Beginnend mit der jungtschechischen Zeit und endend mit der Dritten Republik, untersuchen Historiker aus Tschechien, der Slowakei, Deutschland und den USA in einem ersten Teil Benešs Politik, diplomatische Schachzüge, Erfolge und Niederlagen. In einem zweiten Teil werden vor allem die Darstellungen Benešs in narrativen Quellen von Memoiren über Historiographie bis hin zu filmischen Dokumenten in den Blick genommen.

Problematisch erscheint somit weniger eine von den Herausgebern vorsichtig angedeutete Inkohärenz oder mangelnde Vollständigkeit des Bandes als vielmehr die Art und Weise, in der die Aufsätze präsentiert werden. Der Titel des Bandes suggeriert eine wahr­nehmungsgeschichtliche Analyse, und die Einleitung vermittelt ebenfalls den Eindruck, der Leser könne eine Diskursgeschichte erwarten. Ein großer Teil der Beiträge jedoch, insbesondere im ersten Teil, konzentriert sich eher auf klassische Fragen der Diplomatie- und Politikgeschichte. Analysiert werden in erster Linie die Politik und die Strategien Benešs, weniger – wie in den Titeln angekündigt – die Perspektiven Frankreichs, des Vatikans oder Polens. Erst im zweiten Teil des Bandes werden tatsächlich „Bilder“ und Wahrnehmungen beschrieben und untersucht. In Bezug auf die analytische Schärfe ist vor allem der Beitrag von K. Erik Franzen hervorzuheben, der die Funktionsweise und Dynamiken des negativen Stereotyps von Edvard Beneš überzeugend darstellt.

Der etwas unentschiedene Ansatz eines Großteils der Texte spiegelt sich in der Einleitung des Bandes. Hier wird ebenfalls von Bildern und Wahrnehmungen gesprochen, die Herangehensweise an das Thema bleibt jedoch ambivalent. So wird die These formuliert, Beneš mache es den Historikern besonders schwer, da er als „moderner Medienpolitiker“ zahlreiche Dokumente der Selbstdarstellung hinterlassen habe, mit denen er sein Bild in der Öffentlichkeit bewusst gestaltete. Es bleibt jedoch unklar, weshalb eine solche Quellenfülle als Problem begriffen wird – eine auf Bilder und Wahrnehmungen konzentrierte historische Analyse könnte doch gerade aus der Masse der selbstdarstellenden Texte schöpfen. Hier jedoch scheint es, als betrachteten die Herausgeber Selbstbilder letztlich doch nur als Hindernis, das zwischen dem Historiker und einer historischen Wahrheit steht. Entsprechend wird es auch ausdrücklich als Ziel des Bandes formuliert, „den generell verkürzten und ausschnitthaften Charakter der unterschiedlichen Interpretationen und Wahrnehmungen zu unterstreichen“ (S. 14). Dass ein Politiker – insbesondere ein so umstrittener wie Beneš – nicht objektiv dargestellt wurde und wird, erscheint allerdings nicht besonders überraschend. Interessant wäre eine Analyse, nicht so sehr eine Entlarvung dieser Verkürzungen. Noch deutlicher wird das Problem dieses Ansatzes in der folgenden Formulierung: „Wo in vielen Texten und Dokumenten aus seiner Feder oder über ihn die Grenze zwischen einem absichtlich gezeichneten Bild und einem objektiven (Selbst‑)Zeugnis verläuft, ist eine Frage, die in diesem Fall den sonst bei der Quellenkritik üblichen zeitlichen und intellektuellen Aufwand übersteigt.“ (S. 5) Auch andere Aussagen weisen darauf hin, dass Quellen hier vor allem auf ihren Wahrheitsgehalt, nicht jedoch auf die in ihnen enthaltenen Wahrnehmungen – und deren Geschichtsmächtigkeit – überprüft werden sollen. Es folgen noch weitere, aus kulturhistorischer Sicht irritierende Dualismen wie die Gegenüberstellung von Beneš „als Individuum und als Politiker“ oder als emotionale und damit wahrhaftigere Privatperson einerseits und öffentliche Figur andererseits (S. 3). Schließlich wagen die Herausgeber noch eine Anleihe bei Ernst Kantorowicz, wenn sie die Persönlichkeit eines Politikers mit einem „zweiten Leib“ kontrastieren. Kantorowicz Theorie von den mittelalterlichen „zwei Körpern des Königs“ lässt sich jedoch nur sehr bedingt in dieser Weise nutzen und interpretieren, geht es doch Kantorowicz nicht um Realität und Mythos – wie hier unterstellt –, sondern um einen natürlichen und einen politischen Leib, einen verletzlichen, sterblichen und einen unangreifbaren. Es bleibt offen, wie diese Unterscheidung und die damit eng zusammenhängende Theorie zu Person und Staat in Mittelalter und früher Neuzeit auf die Analyse der Selbst- und Fremddarstellungen eines Politikers des 20. Jahrhunderts angewandt werden soll.

So liegt hier ein Band vor, der durchaus interessante Beiträge zu bieten hat, die wichtige Antworten auf Fragen zur Innen- wie Außenpolitik und zur Diskussion um das Problem der Sudetendeutschen geben können. Die Herausgeber haben sich jedoch durch ihre Auseinandersetzung mit kulturhistorischen, wahrnehmungsgeschichtlichen Ansätzen ein unnötiges Problem eingehandelt, mit dem die Erwartungen des Lesers leider in eine falsche Richtung gelenkt werden.

Martina Winkler, Bremen

Zitierweise: Martina Winkler über: Edvard Beneš – Vorbild und Feindbild. Politische, historiographische und mediale Deutungen. Hrsg. von Ota Konrád und René Küpper. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 306 S. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 129. ISBN: 978-3-525-37302-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Winkler_Konrad_Edvard_Benes_Vorbild_und_Feindbild.html (Datum des Seitenbesuchs)

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