Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Anja Wilhelmi

 

Jörg Hackmann (Hg.): Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa – Associational Culture and Civil Society in North Eastern Europe. Regionale Spezifik und europäische Zusammenhänge – Regional Features and the European Context. Hrsg. von Jörg Hackmann. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 778 S., Tab. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 20. ISBN: 978-3-412-20136-4.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/987108158/04

 

Mit dem vorliegen Sammelband von Jörg Hackmann liegen weit mehr als 30 Abhandlungen zu einem erst in jüngster Zeit entdeckten Untersuchungsthema, der Vereinskultur im nordosteuropäischen Raum, vor. Anhand des knapp 800 Seiten schweren Werks lässt sich bereits vor der ersten Lektüre die Vielfalt der möglichen Fragestellungen an den Untersuchungsgegenstand erahnen.

Dieser für eine Rezension auf begrenztem Raum überaus schwierig zu behandelnde Umfang des Sammelbandes macht – dies sei vorab eingestanden – eine auch nur annähernd ‚gerechte‘ Berücksichtigung aller Beiträge nahezu unmöglich.

Der Band ist in drei Blöcke aufgeteilt: Dem einleitenden Text des Herausgebers folgen ein verhältnismäßig kleines Kapitel zu Vormoderne Formen der Vergemeinschaftung; ausführlichere Betrachtungen lassen sich dann im Jahrhundert der Vereine sowie im Abschnitt Verein, Zivilgesellschaft und Staat im 20. Jahrhundert finden. Mit dem anschließenden vierten Kapitel Wechselwirkungen und Vergleiche wird die chronologische Anordnung der Gliederung um einen komparatistischen Ansatz ergänzt. In nicht einer, sondern gleich in drei Schlussbetrachtungen werden die Ergebnisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln zusammengetragen. Zusammenfassungen aller Beiträge sowie ein Personenregister stehen am Ende des Buches.

Mit der Gliederung des Bandes weicht der Herausgeber deutlich von der gängigen Einteilung des Vereinswesens im Russischen Reich ab: Indem Hackmann nicht die Zäsuren wie das enorme Anwachsen und die Zunahme von Vereinen nach 1880 und den erneuten „Boom“ nach den rechtlichen Lockerungen von 1906 sowie die Einschnitte als Markierungen setzt, die durch den Ersten Weltkrieg und erneut durch die politischen Veränderungen in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts verursacht wurden, unterstreicht er das Prozesshafte in den Entwicklungen. Auf diese Weise lässt er Raum frei, um Kontinuitäten innerhalb der Vereinsformen und -kulturen nachzeichnen zu können. Hier zeigt sich, dass Hackmann schon lange und erfolgreich Forschung zur Geschichte von Vereinen und Zivilgesellschaft betreibt (siehe Jörg Hackmann: Gesellschaftlicher Wandel in Nordosteuropa im Prisma der Vereinskultur. Beobachtungen zur Vereinstopographie Dorpats, in: Zivilgesellschaft im östlichen und südöstlichen Europa in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Jörg Hackmann / Klaus Roth. München 2011, S. 113–141; siehe auch Jörg Hackmann: Vereinswesen und Museen in den baltischen Provinzen, in: Das Dommuseum in Riga. Ein Haus für Wissenschaft und Kunst / Doma Muzejs Rīgā. Templis Zinātnei un Mākslai. Hrsg. vom Herder-Institut Marburg und Rīgas vēstures un kuģniecības muzejs. Marburg/Lahn 2001, S. 20–30.)

Welche Sonderstellung das Vereinswesen der Ostseeprovinzen im gesamten Russischen Reich einnimmt, hebt Hackmann bereits vorab in seiner Einleitung hervor, in der von der außergewöhnlich frühen Vereinskultur im baltischen Raum die Rede ist. Dennoch macht Hackmann diese frühe Periode nicht zum thematischen Schwerpunkt der Aufsatzsammlung, sondern weitet die Untersuchungszeit und den Untersuchungsraum deutlich aus. Bei dieser Herangehensweise kann er sich auf die Unterstützung der einschlägigen Fachkollegen aus Nord- und Osteuropa verlassen, wie dem Autorenverzeichnisses eindrucksvoll zu entnehmen ist.

Dass historische Vereinsforschung im nordosteuropäischen Raum stets mit nationalen Fragestellungen verknüpft ist und wurde, stellt keine neue Erkenntnis dar. Vereine darüber hinaus jedoch als „Agenturen“ (S. 14) für Nationsbildungsprozesse zu analysieren, macht wohl die Vielschichtigkeit und den Reiz des Themas aus. Vor diesem Hintergrund stehen transnationale Ansätze, wie Hackmann sie zu Recht in seiner Einleitung einfordert, noch vielfach aus. Hackmann geht auf dieses Desiderat in dem Kapitel Wechselwirkungen und Vergleiche direkt ein, in dem Lutz Häfner (am Beispiel Saratov), Anastasiia Tumanova (der Aspekt von Freiheit im späten Zarenreich), Joseph Bradley („Interaction rituals“ auf wissenschaftlichen Kongressen im Russischen Reich), Liud­milla Bulgakova (der Einfluss des spätzaristischen Russlands in der internationalen Wohlfahrtsbewegung), Egidijus Aleksandravičius (Vereinskulturen im Litauen des Zaren­reichens), Ulrich Simon (am Beispiel der Lübecker Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit), Christian Pletzing (Handwerksvereine in Ost- und Westpreußen), Torsten Lorenz (Aspekte im polnischen Genossenschaftswesen der Provinz Posen) und Elena Mannová (Kulturtransfer in Zentraleuropa am Beispiel Slowakei) komparatistische Ansätze verfolgen.

Doch auch die Darstellungen zu ethnisch bzw. national definierten Vereinen (Indrek Jürjo: Die Estländisch Literärische Gesellschaft, Enn Küng: Die Narvasche Altertumsgesellschaft, Margit Romang: Die Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde zu Riga, Ea Jansen: Die Gesellschaft der estnischen Literaten, Svetlana Bogojavlenska: Der jüdische Bildungsverein in Riga, Tiit Rosenberg: Der Dorpater Estnische Landwirtschaftliche Verein, Deniss Hanovs: Der Rigaer Lettische Verein), in denen der Fokus auf eine Provinz gerichtet ist, zeigen, dass Raumerweiterung im Rahmen von übergreifenden Veranstaltungen oder Kooperationen stets als ein Teil von Vereinskultur zu begreifen ist.

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der zeitliche Rückgriff auf „vormoderne Formen von Vergemeinschaftung“. Wenngleich hier die begriffliche Schärfe zwischen „Vergesellschaftung“ und „Vergemeinschaftung“ für die Zeitspanne bis ca. 1800 schwan­kend Anwendung findet, sind doch auch für die ältere Geschichte deutliche Kontinuitäten in den Vereinskulturen auszumachen. Und auch hier lassen sich bei Anu Mänd (Revaler Gilden und Schwarzhäupterbrüderschaft) und Lars Bisgaard (St. Kanuti-Gilden) überregional wirksame Interessensgleichheiten in personalen Netzwerke nachzeichnen.

Anhand der genannten Einzelstudien zu Fallbeispielen wird darüber hinaus die Bandbreite von Assoziationen über Wohlfahrt, Handwerk und Kaufmannschaft, Kultur und Bildung, Sport bis hin zu politischen Interessen erkennbar. Daneben werden Einblicke in einzelne Topografien (Jörg Hackmann am Beispiel Dorpat) und Aspekte (Ralph Tuchtenhagen anhand der Heimatbewegung in Ösel; Bradley D. Woodworth: Musikvereine in Tallinn) geboten. Studentische Organisationen (Arkadiusz Janicki: Polnische Studentenorganisation in Riga und Tartu; Valters Ščerbinskis: Lettische Studenten Vereinigungen) spielen hier genauso wie Sportvereine (Karsten Brüggemann: Sport und Sportvereine in Estland) eine Rolle. Exklusive Zusammenschlüsse von Minderheiten (wie etwa der Deutsche Verein bei Jörg Hackmann oder bei Annette Forsén; zur russischen Minderheit in Estland bei Tat’jana Šor) oder der überaus spannende Vergleich zwischen den organisierten Aktivitäten der in Estland verbleibenden und der emigrierten Esten (Aili Aarelaid-Tart) sowie Aspekte der Zusammenarbeit innerhalb des Untersuchungsraums (Riitta Mäkinen: Die Beziehungen von finnischen Freiwilligenorganisationen zu Skandinavien und dem Baltikum) werden in unterschiedlichen zeitlichen und sozialen Kontexten beleuchtet.

Auf den ersten Blick scheint selbst für ein derart umfangreiches Buch die Entscheidung ungewöhnlich, mit drei Schlussbetrachtungen den Band zu beenden. Auf den zweiten Blick erschließt sich allerdings die Logik, denn tatsächlich werden unterschiedliche Gewichtungen gelegt. – Jedes Fazit steht für sich:

Als erster Autor widmet sich Torkel Jansson dem Dreiecksverhältnis. Einheimische, kontinentale und britische Züge im Verhältnis zwischen Staat, Gemeinden und freiwilligen Vereinen. Balto-Skandinavien im 19. Jahrhundert. In konziser Weise stellt er die Entwicklung der Vereinswesen in den drei skandinavischen Ländern Norwegen, Schweden und Finnland, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, vor und arbeitet – um in seinen Worten zu sprechen – „historisch bestimmte Variationen“ überaus anschaulich und pointiert geschrieben heraus.

In aktuelle Debatten führt Risto Alapuro ein. Er wirft einen Blick auf das Beziehungsgeflecht zwischen Freiwilligenverbänden und Staat und vergleicht das Konzept Zivilgesellschaft wie es in Frankreich, Skandinavien und Finnland sowie in Russland und Estland diskutiert wird.

Robert J. Morris schließlich knüpft als letzter im Bunde mit Baltic Afterword nach einem kurzen Überblick über Theorie und Literatur an das an, was der vorliegende Sammelband zu Zivilgesellschaft und Vereinskultur zu leisten im Stande ist, nämlich „that such microhistories and the anthropology of practice can contribute to the wider understanding“ über den untersuchten Raum und die untersuchte Zeit hinaus. (S. 730)

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass in dem vorliegenden Sammelband trotz seines oder eben gerade wegen seines Umfanges die an ihn gestellten Anforderungen eingelöst werden. Vereine und ihre Kulturen als Erfolge zivilgesellschaftlicher Mobilisierung zu verstehen, kann gar nicht nachdrücklicher exemplifiziert werden. Untersuchungen von Vereinssphären bieten insbesondere im europäischen Kontext die Plattform für historische und zeithistorisch aktuelle Fragen des transnationalen Kulturtransfers. Es ist gerade die Vielschichtigkeit der Fallstudien, anhand derer sich belegen lässt, dass nationale Vereinskulturen erst durch die „europäische Brille“ als Bestandteile einer Verflechtungsgeschichte zwischen Nord – Süd – Ost – West wahrzunehmen sind.

Wer sich dennoch von dem Volumen des Bandes abschrecken lässt, dem sei geraten, die Summaries zu den einzelnen Beiträgen ganz hinten im Buch zu lesen. In ihnen lässt sich die thematische und z.T. auch methodische Vielfalt des Sammelwerkes entdecken. Vielleicht regen sie gar die Neugierde auf weitere „microhistories“ in der großen „macrohistory“ Nordosteuropas an.

Anja Wilhelmi, Lüneburg

Zitierweise: Anja Wilhelmi über: Jörg Hackmann (Hg.): Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa – Associational Culture and Civil Society in North Eastern Europe. Regionale Spezifik und europäische Zusammenhänge – Regional Features and the European Context. Hrsg. von Jörg Hackmann. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 778 S., Tab. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 20. ISBN: 978-3-412-20136-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wilhelmi_Hackmann_Vereinskultur_und_Zivilgesellschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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