Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stefan Wiederkehr

 

Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte. Hrsg. von Karl Schlögel unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. München: Oldenbourg, 2011. 314 S. = Schriften des Historischen Kollegs, 74. ISBN: 978-3-486-70445-7.

Inhaltsverzeichnis

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Der vorliegende Band versammelt die Ergebnisse eines Kolloquiums, das der Herausgeber Karl Schlögel als Stipendiat des Historischen Kollegs 2006 in München organisierte. Den Anstoß für den Band gaben weniger die Auto- und Heterostereotype über den Zusammenhang zwischen der Weite desrussischen Raumesund der Grenzenlosigkeit und Zerrissenheit derrussischen Seele“, die seit Petr Čaadaevs berühmtem Diktum kursieren, dass Russland ein Land ohne Vergangenheit – ein „nur geographisches Faktum“ – sei. Ausgangspunkt ist, so Schlögel in der Einleitung, vielmehr das Aufflammen eines neuen Raumdiskurses im postsowjetischen Russland, der einerseits als Identitätsdiskurs eine Reaktion auf die Auflösung der Sowjetunion darstellt, andererseits aber auch wissenschaftsintern durch den spatial turn motiviert ist. Daher kann und soll es nicht nur um den physisch-geographischen Raum gehen, sondern um die Mehrdimensionalität von Räumen, das heißt umgeographische, mentale, symbolische, diskursive, Machträume usf.(S. 16 f.). Der Breite eines solchen pluralistischen Ansatzes entspricht die englische Titelformulierung, dieWahrnehmung, Erfahrung, Exploration, Bewältigung, Neuvermessung, Imagination, Beherrschung des Raumes(S. 16) einzuschließen vermag und zugleich die aufgrund der nationalsozialistischen Verwendung negativen Konnotationen der deutschen Begriffe vermeidet.

Carsten Goehrke fragt nach dem Einfluss der Geographie auf die Geschichte Russlands sowie nach dem Gewicht dieses Faktors im Vergleich zu anderen. Dabei kommt er zu einem differenzierten Urteil und stellt sich in die theoretische Tradition des geographischen Possibilismus: Der Raum habe den Verlauf der Geschichte in Russlandsicherlich stärker als in anderen Ländernbestimmt, bilde aber doch nur denUnterbau eines ständig sich verändernden Geflechts zahlreicher sowohl längerfristiger als auch zeitbedingter geschichtswirksamer Kräfte(S. 45). Die Raumutopie des evrazijstvo ist Gegenstand des Beitrags von Mark Bassin, der die Nationskonzepte zweier prominenter Vertreter der eurasischen Ideologie, Nikolaj S. Trubeckoj (1890–1938) und Lev N. Gumilev (1912–1992) vergleicht. Dabei arbeitet er heraus, wie sich der Neoeurasier Gumilev unter dem Eindruck des Untergangs der Sowjetunion an die Positionen der zwischenkriegszeitlichen Eurasier anglich, indem er die zunächst höhere Gewichtung der Einzelnationen innerhalb Eurasiens fallen ließ und wie seine Vorgänger die eurasische Gemeinschaft ins Zentrum stellte. Susi K. Frank untersucht das Motiv des Nomadisierens in der russischen Kulturphilosophie zwischen 1836 und 1918. Wie sie überzeugend darlegt, lassen sich zwei gegensätzliche Hauptrichtungen der Interpretation erkennen: Sahen die staatshistorische Schule und die Westler darin eine fortschrittshemmende Raumpraxis, interpretierten staatskritische und den narodniki nahestehende Autoren das Nomadisieren als volkstümliche Raumpraxis und legitimierten damit die koloniale Expansion des russischen Volkes im 19. Jahrhundert. Ambivalent war nach Roland Cvet­kov­ski auch die Einschätzung von Russlands Wegelosigkeit (bezdorože) im 18. und 19. Jahrhundert. Straßen als kultureller Raum stünden für Kommunikation, Mobilität und Fortschritt ebenso wie für Kontrolle, Disziplinierung und staatlichen Zugriff. Daher konnte auch in der Wegelosigkeit je nach Perspektive ein Modernisierungsdefizit oder aber die Voraussetzung für die Existenz eines staatsfernen Raums unantastbarer Freiheit gesehen werden. Daran schließen Frithjof Benjamin Schenks Überlegungen über die Eisenbahn alsdemokratisches Verkehrsmittel(S. 126) an. Anhand der drei Ebenen Imperium, Bahnhof und Zugabteil macht Schenk deutlich, wie Bau und Betrieb der Eisenbahn im Russländischen Reich vormoderne soziale Räume transformierten.

Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der sowjetischen Periode der Geschichte Russlands. Katharina Kucher untersucht am Beispiel des 300 km nördlich des Polarkreises gelegenen Norilsk, wie im Stalinismus ohne Rücksicht auf Menschenleben mit Hilfe von Zwangsarbeitern und GULag-Häftlingen eine Region erschlossen wurde, wo unter marktwirtschaftlichen Bedingungen weder eine Stadt noch größere Industrieanlagen je entstanden wären. Einen ähnlichen Versuch, den naturräumlichen Gegebenheiten zu trotzen, bildeten die hydroenergetischen Großprojekte der Sowjetunion, die den Gegenstand des Beitrags von Klaus Gestwa bilden. Die überdimensionierten Raumerschließungsprogramme hätten die volkswirtschaftlichen Disproportionen nicht zum Verschwinden gebracht, sondern im Gegenteil zu ökologischen Schäden und zur Erschöpfung der sowjetischen Gesellschaft geführt. Susan E. Reid vertritt aufgrund ausführlicher Archivstudien die These, dass im Mikrokosmos der Haus- und Wohnungsverwaltungen der nachstalinistischen Sowjetunion Partizipationschancen genutzt worden seien und so die kleine Utopie der Bewältigung des Alltags dieGroße Utopieabgelöst habe. Dem steht Wladislaw Hedelers Fallstudie zumHaus der Regierungin Moskau gegenüber. Indem er versucht, möglichst lückenlos die Schicksale der ca. 2.500 Mieter dieser geschlossenen Siedlung für Angehörige der sowjetischen Elite während der Repressionswellen der späten 1930er Jahre nachzuvollziehen, macht er dieTopographie des Terrors(S. 215) in der Stalin-Zeit sichtbar. Die Visualisierung des Neuen Moskaus der 1930er Jahre untersucht Oksana Bulgakowa und kommt zum Ergebnis, dass der Film eine Ikonographie zu schaffen und ins Land zu transportieren vermochte, bevor der Umbau der realen Stadt realisiert war.

Ein Beitrag Christian Noacks über sowjetische Kurorte als Heterotopien im Sinne Foucaults rundet den lesenswerten Band ab, der eindrücklich demonstriert, welchen Erkenntnisgewinn die Berücksichtigung der lange vernachlässigten KategorieRaumbei der Erforschung der Geschichte Russlands und der Sowjetunion bringt.

Stefan Wiederkehr, Berlin

Zitierweise: Stefan Wiederkehr über: Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte. Hrsg. von Karl Schlögel unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. München: Oldenbourg, 2011. 314 S. = Schriften des Historischen Kollegs, 74. ISBN: 978-3-486-70445-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wiederkehr_Schloegel_Mastering_Russian_Spaces.html (Datum des Seitenbesuchs)

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