Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Vladimir Tismaneanu (Hg.): Stalinism Revisited. The Establishment of Communist Regimes in East Central Europe, Budapest, New York: Central European University Press, 2009, 452 S. ISBN 978-963-9776-63-0.

Die in dem Band behandelten Fragen sind so zahlreich und unterschiedlich, dass nicht auf alle eingegangen werden kann. Im Folgenden bleiben die Aufsätze außer Betracht, die sich mit Detailfragen einzelner Länder befassen. Es wird nur auf das Bezug genommen, was für das zentrale Thema, die Sowjetisierung Osteuropas, wichtig ist.

Alfred J. Rieber erörtert unter dem Stichwort Volksdemokratie Stalins Konzept, zwecks Fortsetzung der Kooperation mit den Westmächten vorsichtig zu agieren und für die sozialistische Umgestaltung der eroberten Gebiete einen scheinbar demokratischen Ausgangspunkt zu wählen. Das erschien nur dort unnötig, wo kommunistische Partisanen aus eigener Kraft die Voraussetzungen für den direkten Übergang zum Sozialismus geschaffen hatten, mithin der autochthone Charakter des Systemwechsels offen zu Tage lag (etwa in Jugoslawien). Aber auch da hätte Stalin es lieber gesehen, wenn die neue Ordnung in moderaterer, den Westen weniger provozierender Form eingeführt worden wäre. Der offene Ausbruch des Konflikts zwischen der UdSSR und dem Westen Mitte 1947 veranlasste den sowjetischen Diktator dazu, die bisherigen Rücksichten fallen zu lassen und die Entwicklung zum Sozialismus zu forcieren. Rieber erweitert die Erkenntnisse über Stalins Strategie der politisch-gesellschaftlichen Transformation durch Heranziehung von unbekannten oder bisher nicht beachteten Moskauer Dokumenten.

Mark Kramer stellt in seinem – auf umfangreiche Quellen aus russischen und osteuropäischen Archiven (einschließlich sprachlich schwer zugänglicher Unterlagen aus Ländern wie Ungarn, Rumänien oder Bulgarien) gestützten – Beitrag über Stalins um Aufbau und Konsolidierung des kommunistischen Staatenblocks bemühte Politik zunächst knapp die Ausgangslage und dann in breiterer Form das Vorgehen und die Entwicklungen beim Aufbau entsprechender Regime dar. Der sowjetische Diktator bezog zwar bei seinen Erwägungen die ablehnende Haltung der westlichen Kriegsverbündeten ein, stellte diese aber hintan, als sich zeigte, dass sich der angestrebte Konsens nur mit echtem Entgegenkommen herstellen ließ. Der Aufsatz macht auch im Unterschied zu den meisten anderen Studien deutlich, wie stark in Ostmitteleuropa und in der westlichen UdSSR bis zu den 1950er Jahren der Widerstand des bewaffneten Untergrunds war, wie sehr er die Überlegungen im Kreml beeinflusste und mit welcher Brutalität er schließlich zerschlagen wurde.

Im Zentrum des Beitrags steht Stalins Bruch mit Tito. In Ergänzung des bisherigen Standes der Erkenntnis wird dargelegt, wie die sowjetische Seite vergeblich den Versuch machte, Jugoslawien durch Mordpläne, Subversionsakte, Kampagnen, Pressionen und wirtschaftliche Sanktionen in die Knie zu zwingen. Wissenschaftliches Neuland betritt Kramer mit den detaillierten Ausführungen über die – seit Anfang 1950 verstärkt getroffenen – militärischen Vorbereitungen, die ab Januar 1951 zugleich gegen die NATO gerichtet waren. Den bisher verfügbaren Quellen ist nicht zu entnehmen, welcher Ausrichtung dabei die Priorität zukam und ob Stalin tatsächlich daran dachte, Jugoslawien anzugreifen. Was sich mit Gewissheit feststellen lässt, ist eine Aufrüstung der UdSSR und ihrer Gefolgschaftsstaaten in einem so enormen Umfang, dass im Kriegsfall das Schicksal Jugoslawiens besiegelt gewesen wäre. Allerdings ließ sich dieser Zustand erst einige Zeit nach Stalins Tod erreichen. Bis dahin hatte sich aber die Situation im Block wesentlich verändert, so dass der militärische Aufbau nicht mehr im vorgesehenen Umfang fortgesetzt werden konnte. Als weitere Folge des Konflikts mit Tito stellt Kramer die Welle der gegen hohe und höchste kommunistische Kader gerichteten Säuberungen und Schauprozesse in Osteuropa heraus, die nicht nur der Bekämpfung vermeintlicher oder vorgeblicher Tendenzen des „Titoismus“ in den Parteien diente, sondern auch durch die Verbreitung allgemeinen Schreckens die Unterwürfigkeit der Gesellschaften verstärkte.

Bradley Adams behandelt den Sonderfall Tschechoslowakei, wo ungewöhnlich günstige Voraussetzungen dem sowjetischen Führer ein anderes Vorgehen nahelegten als sonst. Doch wird weder dieses, noch werden die es ermöglichenden Umstände deutlich. Zwar enthält der Aufsatz interessante Angaben über den politischen Prozess in der Zeit von 1945 bis 1950, aber der Anspruch in der Überschrift, den Weg des Landes zum Stalinismus darzustellen, wird nicht eingelöst. Es fehlt sowohl der Vergleich mit den anderen eroberten Länder, also der Hinweis auf das, was den Transformationsprozess in der ČSR von den Schritten zum Systemwechsel im sonstigen Osteuropa1 unterscheidet, als auch jede Ahnung von der Kollaboration Benešs mit Stalin und der von diesem gelenkten Kommunistischen Partei Gottwalds seit 1943, die ihrerseits das politische Geschehen im Lande bestimmte, bis der vom Kreml Anfang 1948 eingeleitete Putsch die demokratische Fassade beseitigte und auch der Präsidentschaft von Beneš ein Ende machte.2 Stattdessen wird der Verlauf des Geschehens auf das Handeln der Parteien und die Flügelkämpfe in der KPČ zurückgeführt. Der Aufsatz ist ein Paradebeispiel dafür, dass kein zutreffendes Bild des politischen Geschehens in Osteuropa nach dessen Eroberung durch die Rote Armee möglich ist, ohne Stalins UdSSR als maßgeblichen Akteur einzubeziehen.

Die Tatsache, dass nicht einheimische Entscheidungen, sondern Weisungen aus Moskau die – in diesem Fall von allem Anfang an mit rücksichtslosestem Massenterror durchgesetzte – Machtergreifung der Kommunisten steuerten, stellt mit großem Nachdruck und detaillierten Nachweisen Ekaterina Nikova in ihren Ausführungen über das Vorgehen in Bulgarien heraus. Auch aus den Darstellungen von Antoni Z. und Bartłomiej Kaminski sowie von János Rainer über die Entwicklungsphasen in Polen bzw. Ungarn geht hervor, dass die sowjetische Seite den eroberten Ländern ihren Willen aufzwang und mit ihrem politischen Drehbuch das Geschehen bestimmte. John Connelly hält das anfängliche Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie in der späteren DDR für echt, denn er übersieht, dass dies auf Stalins Anordnung hin ausdrücklich als nur vorläufige Absage an das Sowjetsystem gedacht war und – so wie in den anderen Ländern – zu ihm hinführen sollte (was dann auch programmgemäß erfolgte). Es kann daher weder von einem „Nicht-Stalinismus“ zu Beginn die Rede sein, noch stellt der „Neo-Stalinismus“ zum Schluss – dass nämlich die DDR länger als die UdSSR und andere Länder am stalinistischen Regime festhielt – ein erklärungsbedürftiges Paradox dar.

Der Band enthält wichtige Ausführungen zur Sowjetisierung Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, und diese sollten in Forschung und Lehre Berücksichtigung finden.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Vladimir Tismaneanu (Hg.): Stalinism Revisited. The Establishment of Communist Regimes in East Central Europe, Budapest, New York: Central European University Press, 2009, 452 S. ISBN 978-963-9776-63-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Tismaneanu_Stalinism_Revisited.html (Datum des Seitenbesuchs)

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1Zu Stalins Aktionskonzept und Maßnahmenkatalog für die eroberten Ländern siehe Einleitung, in: Gerhard Wettig (Hg.): Der Tjuľpanov-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2012, S. 29–40.

2Näheres bei Gerhard Wettig: Beneš, Stalin, die Vertreibung der Deutschen und die Sowjetisierung der Tschechoslowakei, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2013), S. 5790.