Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Kristina Spohr: The Global Chancellor. Helmut Schmidt and the Reshaping of the International Order. Oxford: Oxford University Press, 2016. XVI, 211 S., 17 Abb. ISBN: 978-0-19-874779-6.

Kristina Spohr will den zahlreichen politischen Biographien Helmut Schmidts keine weitere hinzufügen, sondern bisher vernachlässigte Aspekte seines Wirkens beleuchten und zur Geltung bringen. Wie sie darlegt, gehört bzw. jetzt gehörte er zu jenen Akteuren der internationalen Szene, die mit einer ungewöhnlich schwierigen Situation konfrontiert waren und denen es deswegen weithin verwehrt blieb, die Früchte ihres Vorgehens zu ernten. Das habe eine Unterbewertung Schmidts gegenüber Adenauer, Brandt und Kohl zur Folge gehabt, welche die Entwicklung der Bundesrepublik zu bestimmen vermochten. Die Autorin korrigiert dieses Geschichtsbild, indem sie auf breitester westlicher Quellengrundlage darstellt, wie er angesichts der Krise agierte, der er als plötzlich an die Spitze gestellter Regierungschef gegenüberstand, wie er wesentlich dazu beitrug, die erschütterte Stabilität des Westens wiederherzustellen, und wie er trotz eklatant fehlender Statusgleichheit zum anerkannten, faktisch gleichberechtigten Partner im Kreise der USA, Großbritanniens und Frankreichs wurde. Aus den detaillierten, stets belegten Ausführungen geht hervor, dass er zwar pragmatisch vorging und dabei fast immer seine Emotionen zu kontrollieren wusste, deswegen aber durchaus kein bloßer „Macher“ war, wie ihm von innenpolitischen Kritikern oft vorgeworfen wurde. Nachweislich folgte er nicht nur präferierten Handlungsmustern, sondern hatte auch klare Vorstellungen und Konzepte bezüglich dessen, was vernünftigerweise im Interesse des Ganzen erreicht werden sollte. Da er – für einen Politiker sehr ungewöhnlich – über fachliche Kompetenz verfügte, zudem in den zentralen Bereichen der Wirtschaft und der Sicherheitspolitik, war er für die anstehenden Aufgaben gut gerüstet.

Die ökonomische Krise des Westens aufgrund vor allem der Kostenvervielfachung sowie Lieferungsverknappung beim Erdöl und des Zusammenbruchs des Währungssystems von Bretton Woods war das erste Problem, das der Lösung bedurfte. Schmidt sah die Gefahr, dass andernfalls das System der westlichen Demokratie insgesamt kollabieren könnte, und hielt es für unbedingt erforderlich, dass die maßgeblichen westlichen Länder zu einem gemeinsamen Vorgehen zusammenfanden, statt sich, wie es zwischen den beiden Weltkriegen der Fall gewesen war, hinter nationale Schutzmauern zurückzuziehen. Zustatten kam ihm dabei, dass er sich in den USA hoher Wertschätzung erfreute, dass er bereits als Finanzminister feste Gesprächskontakte zu den amerikanischen, britischen und französischen Kollegen gepflegt hatte, dass nicht nur in Bonn wirtschaftlich kompetente Politiker an die Spitze getreten waren und dass ihn mit Giscard d’Estaing, dem neuen französischen Staatspräsidenten, seit langem eine persönliche Freundschaft verband, die viele Interessengegensätze entschärfte. Das Ergebnis war eine funktionierende Zusammenarbeit im Rahmen zuerst der G 6 (unter Einschluss Japans und Italiens) und dann der G 7 (zusätzlich mit Kanada). Damals wurden die Grundlagen für die wirtschaftliche Stärke des westlichen Lagers gelegt, die dann in der Ära Gorbačev das Ost-West-Verhältnis in sehr erheblichem Ausmaß bestimmte.

Schmidt bestand auf einem militärischen Gleichgewicht als Grundlage der Entspannung. Es müsse nicht nur zwischen den zwei Führungsmächten, sondern auch auf dem europäischen Schauplatz gewährleistet werden. Als US-Präsident Carter eine Berücksichtigung bei den Nuklearverhandlungen mit der UdSSR verweigerte, wandte er sich im Oktober 1977 an die Öffentlichkeit. Das drängendste Problem war die sowjetische SS 20, der Westeuropa nichts entgegenzusetzen hatte. Da nun auch Giscard d’Estaing und der britische Premierminister Callaghan eine Reaktion forderten, schlug Carter Anfang 1979 eine „Nachrüstung“ vor. Man kam überein, auf dem europäischen Kontinent amerikanische Raketen aufzustellen, soweit es nötig wäre, um die UdSSR durch ein unannehmbares Risiko von Drohungen von dem Einsatz der SS 20 abzuhalten.

Am 12. Dezember 1979 fasste die NATO den Doppelbeschluss, ab Ende 1983 in den USA produzierte Raketen in Westeuropa, vor allem in der Bundesrepublik, aufzustellen, zugleich aber in Verhandlungen den teilweisen oder vollständigen Verzicht darauf anzubieten, soweit der Kreml analog von der SS 20 Abstand nehme. Dieser Kurs barg Probleme für Schmidt, denn während der Koalitionspartner FDP hinter ihm stand, war die Unterstützung der eigenen Partei, der SPD, wegen der Stärke der Befürworter einer bedingungslosen Abrüstungs- und Entspannungspolitik nur schwer zu gewinnen. Es gelang ihm zwar lange Zeit, die Mehrheit seiner Partei hinter sich zu bringen, doch im Herbst 1982 konnte er sich gegen die fundamentalistische Linke nicht mehr durchsetzen. Die FDP wechselte zur CDU/CSU, er musste abtreten, und sein politisches Erbe wurde von der neuen Regierung Kohl/Genscher übernommen, die ein Jahr später die „Nachrüstung“ gegen den Widerstand einer überwältigend stark erscheinenden Friedensbewegung durchsetzte.

Kristina Spohr stellt Schmidts Motivationen, Überlegungen und Vorgehensweisen unter Heranziehung eines breiten Spektrums bisher unbeachteter Quellen ebenso eindrücklich wie überzeugend dar und macht deutlich, dass er ein weitblickender Staatsmann war, der die weltweiten Entwicklungen im Auge hatte, klare Konzepte entwickelte und sich mutig den innerparteilichen Herausforderungen stellte. Als sein bleibendes Verdienst, das bei der sich später eröffnenden Wiedervereinigungsoption entscheidende Bedeutung erlangte, stellt die Autorin heraus, dass die Bundesrepublik Deutschland aufgrund seiner Politik Aufnahme in den Kreis der westlichen Hauptmächte fand und sich als gleichberechtigter Partner an der Gestaltung der internationalen Verhältnisse beteiligen konnte. Spohrs hervorragende, stets gut belegte Ausführungen lassen Schmidts Kanzlerschaft weithin in einem neuen Licht erscheinen. Sie werden bei allen künftigen Forschungen über die internationalen Entwicklungen nach Mitte der siebziger Jahre, als sich die Spannungen wieder verschärften, zu berücksichtigen sein.

Wie hervorgehoben wird, sah sich Schmidt als „Dolmetscher“ der sowjetischen Politik im Westen und umgekehrt; er wollte damit wechselseitig Verständnis füreinander schaffen. In dieser Hinsicht sind aufgrund vor allem östlicher Quellen, die der Aufmerksamkeit der Autorin entgangen sind, Ergänzungen und Differenzierungen erforderlich. Vermutlich unter dem Druck der Opponenten in der SPD, die auf bedingungslose Entspannung drangen, ließ Schmidt die Forderung nach militärischem Gleichgewicht faktisch fallen. Während eines Zwischenstopps auf dem Moskauer Flughafen am 25. Juni 1979 bot er Kosygin und Gromyko den Verzicht auf Gegenrüstung an, wenn die UdSSR sich mit den bis dahin aufgestellten 100 SS 20 zufrieden gebe (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [PA-AA], B 130, Bd 14078, Ref 010, o. Bl. [S. 1–17, inbes. 13–15]; S. F. Achromeev / G. M. Kornienko: Glazami maršalla i diplomata. Kritičeskij vzgljad na vnešnjuju politiku SSSR do i posle 1985 goda. Moskva 1992, S. 43 f.; G. M. Kornienko: Cholodnaja vojna. Svidetel’stvo ego učastnika. Moskva 2001, S. 289 f.). In Gesprächen mit der sowjetischen Führung am 1. Juli 1980 war er bereit, eine noch größere Zahl hinzunehmen (Ebd., S. 299 f.; PA-AA, 150, Aktenkopien 1980, VS-Bd. 13165, Ref. 213, o. Bl., S. 1–17; Tagebucheintragung von V. S. Semënov, 2.7.1980, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte [2004], 2, S. 259; Die geheimen Einzelheiten der Moskauer Gespräche, in: Die Welt [7.7.1980]). Da diese jeweils mit drei unabhängig voneinander ins Ziel zu lenkenden hochkalibrischen Sprengköpfen ausgestattet waren, hätte das die Akzeptanz eines massiven einseitigen nuklearen Potentials bedeutet, das die Vernichtung Westeuropas mit einem Schlag ermöglicht hätte, ehe die USA eingreifen konnten. An so einem Vorgehen würden die Moskauer Akteure zwar kaum interessiert sein, doch bestand die Sorge, dass sie die Fähigkeit dazu zur Erpressung nutzen könnten.

Die – ohne Wissen der westlichen Verbündeten – präsentierten Offerten wurden ausdrücklich als nur „privat“ bezeichnet, doch war klar, dass die Ausführung des NATO-Doppelbeschlusses von der Mitwirkung der Bundesrepublik abhing. Dem Kreml bot sich damit die Chance, nicht nur der nuklearen Überlegenheit gegenüber Westeuropa Dauer zu verleihen, sondern auch den internen Zwist im atlantischen Bündnis zu fördern. Dazu kam es nicht. Die Sowjetunion hielt daran fest, alle geplanten 333 SS 20 (davon 234 mit Ausrichtung gegen Westeuropa) zu stationieren. Schmidt war erstaunt, dass seine sicherheitspolitischen Vorschläge keinen Anklang fanden, und meinte zudem, die UdSSR könne nicht daran interessiert sein, dass an die Stelle seiner verständigungsbereiten Regierung eine weniger freundlich gesonnene, von der CDU/CSU geführte Regierung trete, denn so werde sich die dauernde Zurückweisung seiner Vorschläge durch den Kreml letztlich auswirken. Als er das den DGB-Vorsitzenden bei einem Moskau-Besuch im Oktober 1981 vortragen ließ, glaubten die Politbüromitglieder nicht richtig zu hören, denn sie waren sich sicher, dass nach dem Sturz des Bundeskanzlers die Gegner des Doppelbeschlusses das Heft in die Hand bekommen würden (Die Situation ist ernst, in: FAZ [14.10.1981]; mündlicher Bericht eines Mitglieds der DGB-Delegation).

Auch wollten sie ihn, wie sich bei jeder Gelegenheit zeigte, prinzipiell nicht unterstützen, weil er den Widerstand gegen die SS 20 initiiert hatte. Er galt als Erzfeind, dessen Ausschaltung richtig erschien. Mithin beruhte sein sicherheitspolitischer „Dialog“ mit dem Kreml auf Fehlwahrnehmungen, die einen Erfolg von vornherein ausschlossen. Gegenüber seiner Partei, die zunehmend sowjetisch approbierten Friedensparolen folgte, hielt er mutig an dem fest, was er als richtig erkannt hatte. Das musste er zwar mit dem Ende seiner Regierung bezahlen, doch siegte die Sache, für die er sich einsetzte. Als ein Erbe übernahm Kohl die von der NATO beschlossene Gegenrüstung. 1985 zog KPdSU-Generalsekretär Gorbačëv aus der dadurch geschaffenen Lage den Schluss, die Sicherheitspolitik gegenüber dem Westen nicht mehr konfrontativ, sondern kooperativ auszurichten, und leitete damit eine grundlegende Wende ein.

Als brillante Studie, die Schmidts Konzept und Vorgehen in allen zwischenstaatlichen Bereichen außer der Interaktion mit der UdSSR zuverlässig und einfühlsam darstellt und seine staatsmännischen Qualitäten deutlich macht, ist das Buch von Kristina Spohr unbedingt zu empfehlen. Zugleich wird es eines der maßgebenden Werke sein, das der weiteren Forschung zugrunde zu legen ist.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Kristina Spohr: The Global Chancellor. Helmut Schmidt and the Reshaping of the International Order. Oxford: Oxford University Press, 2016. XVI, 211 S., 17 Abb. ISBN: 978-0-19-874779-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Spohr_The_Global_Chancellor.html (Datum des Seitenbesuchs)

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