Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Lorenz M. Lüthi: The Sino-Soviet Split. Cold War in the Communist World. Princeton, NJ, Oxford: Princeton University Press, 2008. XXII, 375 S. = Princeton Studies in International History and Politics. ISBN: 978-0-691-13590-8.

Das Ausscheren des kommunistischen Chinas aus dem sowjetischen Lager, in das es 1950 nach dem Sieg über die Kuomintang im Vorjahr aufgenommen worden war, und die daraus resultierende Kontroverse, die sich im Laufe der sechziger Jahre bis zur offenen Feindschaft steigerte, führten im folgenden Jahrzehnt zur Annäherung Chinas an die USA und die anderen NATO-Staaten. Das veränderte das Kräfteverhältnis im Ost-West-Konflikt entscheidend. Die Monographie von Lorenz M. Lüthi stellt detailliert und eindrücklich die Entwicklung vom Beginn des Bündnisses zwischen den beiden sozialistischen Mächten bis zum totalen Bruch 1966 dar, der zusammen mit der Erschütterung 1968 durch die Auseinandersetzung in der reformkommunistischen Tschechoslowakei, die UdSSR zu einer Politik der Vereinbarungen gegenüber dem Westen (Ostverträge mit der Bundesrepublik, Berlin-Abkommen und KSZE-Schlussakte) bewog.

Selbst auf dem Höhepunkt der sowjetisch-chinesischen Freundschaft in der Anfangszeit war das beiderseitige Verhältnis nicht frei von Irritationen. Stalin behandelte die Führer in Peking von oben herab. Mao nahm dies hin, weil er den politischen Rückhalt und die wirtschaftliche Hilfe des ‚großen Bruders‘ benötigte. Er bekam erste Zweifel daran, dass ihn der Bund mit der UdSSR wirklich im erforderlichen Ausmaß unterstützte, als Chruschtschow 1956 Kritik an Stalin übte und damit nach seinem Eindruck die Rechtschaffenheit des kommunistischen Regimes prinzipiell in Frage stellte. In den folgenden Jahren wurde die Inkongruenz vor allem der innenpolitischen Orientierungen zum Hauptfaktor des zunehmenden Zwists zwischen beiden Ländern. Lüthi, der sich in der Phasenfolge der Innenpolitik Stalins auskennt, zeigt, wie Mao diese in wesentlichen Teilen zu einer Zeit wiederholte, als die Sowjetunion andere Wege einschlug. Mao sah sich immer wieder durch deren Exempel desavouiert, zumal seine Kritiker und Widersacher in der chinesischen Führung sich darauf beriefen und damit den Eindruck einer gemeinsamen Front mit dem Kreml erweckten. Er entwickelte ein Misstrauen, das ihn beispielsweise auch die Absicht einer Fremdkontrolle vonseiten Moskaus wittern ließ, als Chruschtschow die amerikanischen Nuklearstützpunkte in Ost- und Südasien durch die Stationierung sowjetischer Atom-U-Boote im Chinesischen Meer konterkarieren wollte. Es kam eine Folge von eskalierenden, beiderseitigen Konfliktschritten in Gang, die in der eiligen Zurückziehung der sowjetischen Entwicklungshelfer und einer trotzigen Reaktion Maos kulminierten. Die chinesische Partei trug zunächst nur intern geäußerte Polemik in die Öffentlichkeit; der „Chruschtschowismus“ wurde zum Gegenstand heftiger Attacken. Als der sowjetische Parteichef im Oktober 1964 gestürzt wurde, hoffte Mao eine kurze Zeit lang auf einen fundamentalen Politikwechsel im Kreml. Als dieser ausblieb, war der Bruch endgültig vollzogen.

Bei dieser Entwicklung spielten ideologische Vorstellungen und daraus erwachsende Missverständnisse eine ausschlaggebende Rolle. Was die Außen- und Sicherheitspolitik anbelangt, war für Mao die von den Nachfolgern Stalins 1956 zur strategischen Leitlinie erklärte „friedliche Koexistenz“ mit den Staaten des Westens der hauptsächliche Stein des Anstoßes. Er interpretierte sie als Abrücken vom marxistisch-leninistischen Grundsatz der prinzipiellen Gegnerschaft zu den kapitalistischen Ländern. Dabei verkannte er, dass es, wie man in Moskau formulierte, lediglich um eine neue „Form des Klassenkampfes“ ging, die von Stalins Vorgehensweise abwich und den veränderten Erfordernissen des nuklearen Zeitalters, insbesondere der Vermeidung eines direkten Krieges gegen die nuklear hochgerüsteten USA und ihre Verbündeten, Rechnung trug. Dass Mao in dieser Hinsicht und in vielen anderen Bereichen die sowjetische Haltung falsch beurteilte, lässt einen völligen Wirklichkeitsverlust und ein Versagen der Kommunikation im Verhältnis zur UdSSR erkennen: Weder der sowjetische Botschafter in Peking noch sein chinesischer Kollege in Moskau vermochten Mao ein zutreffendes Bild von der politischen Ausrichtung des Kremls zu vermitteln. Umgekehrt sorgte chinesische Geheimnistuerei dafür, dass die sowjetische Führung wenig über die dort herrschenden Vorstellungen und Motive erfuhr. Lüthis überaus genaue, auf guten Quellen aus chinesischen, sowjetischen und weiteren Archiven beruhende Darstellung der Geschichte des Bruchs zwischen den beiden sozialistischen Hauptmächten zeigt, wie sehr das Vorgehen der politischen Akteure von ihren jeweiligen Wahrnehmungen (perceptions) bestimmt wird. Diese sind  häufig der Situation wenig angemessen oder können sogar völlig in Widerspruch dazu stehen. In der Analyse des Historikers, der die Zusammenhänge rückblickend zu klären sucht, kommt daher den Wahrnehmungen entscheidende Bedeutung zu.

Das klar geschriebene Buch Lüthis ist zwar schon 2008 erschienen, entspricht aber weiter in allen wesentlichen Punkten dem aktuellen Stand der Forschung. Eine deutsche Ausgabe wäre wünschenswert, um dem Werk auch hierzulande eine weite Verbreitung zu sichern.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Lorenz M. Lüthi: The Sino-Soviet Split. Cold War in the Communist World. Princeton, NJ, Oxford: Princeton University Press, 2008. XXII, 375 S. = Princeton Studies in International History and Politics. ISBN: 978-0-691-13590-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Luethi_Sino-Soviet_Split.html (Datum des Seitenbesuchs)

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