Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Die Moskauer Deklaration 1943. „Österreich wieder herstellen“. Hrsg. von Stefan Karner / Alexander O. Tschubarjan. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2015. 296 S., 30 Abb. = Kriegsfolgen-Forschung, 8. ISBN: 978-3-205-79689-3.

Inhaltsverzeichnis:

https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/468338

 

Die Beiträge des Sammelbandes enthalten umfassende Darstellungen der Vorgänge und Probleme im Zusammenhang mit der Deklaration, welche die alliierten Siegermächte USA, UdSSR und Großbritannien am 30. Oktober 1943 auf der Moskauer Außenministerkonferenz beschlossen und zur maßgeblichen Grundlage der Behandlung Österreichs machten. Dessen Selbständigkeit sollte, nachdem Hitler diese im März 1938 durch Anschluss an das Deutsche Reich beseitigt hatte, zwecks Schwächung Deutschlands  wiederhergestellt werden. Viele Einzelfragen waren jedoch strittig. Auf westlicher Seite dachte man – vor allem auch zur Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage, deren Brüchigkeit in der Zwischenkriegszeit den Staat bedroht hatte – an die Einbeziehung in eine zu schaffende Donauföderation, was Stalin als gegen ihn gerichteten Sperrriegel heftig ablehnte. Um den Zusammenschluss mit anderen Ländern unnötig erscheinen zu lassen, trat die UdSSR für die ökonomische Leistungsfähigkeit des kleinen Landes ein, forderte aber zugleich Reparationen, was die angelsächsischen Partner zurückwiesen. (Moskau verschaffte sich später Ersatz mit der Durchsetzung des Anspruchs auf das „deutsche Eigentum“  im Lande, vor allem die Erdölfelder.) Gemeinsam wollte man Österreich eine Vorzugsbehandlung im Vergleich zu Deutschland angedeihen lassen, um ihm ein Interesse an der bis dahin nur von sehr wenigen gewollten Eigenstaatlichkeit zu geben und damit die Trennung von Deutschland im Bewusstsein des Landes dauerhaft zu verankern.

Vor diesem Hintergrund war der Wortlaut der Deklaration widersprüchlich. Österreich wurde als „das erste freie Land“ bezeichnet, das „der Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen“ sei und das daher „von deutscher Herrschaft befreit werden“ solle. Zugleich aber wurde ihm eine Verantwortung für die „Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands“ zugewiesen, obwohl es doch als, wie es hieß, unter „Besetzung“ stehendes Territorium logischerweise gar nicht handlungsfähig sein konnte. Die gegensätzlichen Formulierungen wirkten sich ab 1945 praktisch aus. Österreich wurde zwar von den Alliierten, denen mittlerweile auch Frankreich zugerechnet wurde, genauso wie Deutschland besetzt und zum Zweck der Okkupation aufgeteilt, erhielt aber sofort eine mit landesweiter Autorität und Autonomie gegenüber den Besatzern ausgestattete Regierung und konnte schon nach wenigen Monaten seine staatliche Spitze durch freie Wahlen bestimmen. Die UdSSR machte keinen Versuch, in ihrer Zone ein kommunistisches Regime aufzubauen, und in Übereinstimmung mit der These, Österreich sei das erste Opfer von Hitlers Aggressionspolitik gewesen, wurde keine Entnazifizierung durchgeführt. NS-belastete Personen blieben unbehelligt und konnten vielfach weiter Einfluss ausüben, worauf die Öffentlichkeit erst nach Jahrzehnten aufmerksam zu werden begann.

Horst Möller, Geoffrey Warner, Vasilij S. Christoforov, Vladimir Pečatnov und Vladimir Švejcer stellen – mit neuen, auf Archivdokumenten beruhenden Erkenntnissen über die Vorgänge auf sowjetischer Seite – die Deklaration über die Wiederherstellung des österreichischen Staates in den Rahmen der Moskauer Außenministerkonferenz, während Manfred Wilke den militärischen Hintergrund des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1943 und Barbara Stelzl-Marx die Verwendung der Deklaration in den Befehlen der Roten Armee 1945 beleuchtet. Den Wissensstand über die Österreich-Politik der UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs ergänzen Beiträge von Walter M. Iber und Peter Ruggenthaler, Aleksej Filitov, Siegfried Beer sowie Georges-Henri Soutou. Die Vorgeschichte des „Anschlusses“ an Hitlers Reich stellen Gerhard Botz und Erwin A. Schmidl dar. Mit dem Anti-NS-Widerstand einer kleinen Minderheit im Lande befasst sich Brigitte Bailer. Der auf die Deklaration gestützte „Opfermythos“ der Nachkriegszeit ist das Thema von Helmut Wohnout (bezogen auf die Person Leopold Figls) sowie – als kritische Betrachtung der lange Zeit üblichen historischen Darstellung – Günter Bischof. Wie grundlegend sich die sowjetische Österreich-Politik vom Vorgehen in Deutschland unterschied, zeigen die Ausführungen von Stefan Karner über die „Antifa“-Agitation unter den Kriegsgefangenen und von Harald Knoll und Michail Pro­zu­menščikov über die Haltung gegenüber der KPÖ.

Eine kleine Auswahl der wichtigsten Dokumente gibt dem Leser unmittelbaren Einblick in die archivalische Überlieferung, und die im Verlauf einer Podiumsdiskussion präsentierten Erinnerungen von Diplomaten, unter anderem die eines früheren Mitarbeiters aus dem Moskauer Außenministerium, machen lebendig, wie es zur Gründung der zweiten österreichischen Republik gekommen ist. Insgesamt bietet der Sammelband eine gute, überaus lesenswerte Darstellung der mit der Moskauer Deklaration verbundenen Aspekte.

Gerhard Wettig, Kommen

 

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Die Moskauer Deklaration 1943. „Österreich wieder herstellen“. Hrsg. von Stefan Karner und Alexander O. Tschubarjan. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2015. 296 S., 30 Abb. = Kriegsfolgen-Forschung, 8. ISBN: 978-3-205-79689-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Karner_Die_Moskauer_Deklaration_1943.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Gerhard Wettig. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.