Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo-e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Vladimir Gelman: Authoritarian Russia. Analyzing Post-Soviet Regime Changes. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2015. 208 S. = Pitt Series of Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-6368-4.

Mit dieser Publikation legt der russische Autor, der sowohl in St. Petersburg als auch in Helsinki akademisch beheimatet ist, eine politikwissenschaftliche Studie vor, die den Wandel des Regimes in Russland seit der Auflösung der UdSSR thematisiert. Das geschichtliche Geschehen dient als Exempels und wird nicht als solches dargestellt. Stattdessen geht es darum, anhand vorher definierter Begriffe und Kriterien eine Antwort auf die Frage zu finden, wieso das Regime in Moskau trotz gleicher situativer Voraussetzungen wie im vormals sowjetisch beherrschten Osteuropa eine gegensätzliche, autoritäre Richtung genommen hat. Der Ausgangspunkt der Analyse ist, dass die politischen Akteure stets um ein Maximum an Macht – um deren Erwerb, Ausübung und Aufrechterhaltung – bemüht sind und sich bei diesem Streben nach den Spielregeln richten müssen, die ihnen die Institutionen vorgeben. Diese bestimmen, was als Vorgehen akzeptiert ist und was nicht, und beschränken damit den Handlungsspielraum, welche Maßnahmen bei der Machtmaximierung ergriffen werden können, ohne dass der Akteur sich damit selbst schadet. Die Selbstbeschränkung, die unter demokratischen Verhältnissen üblich ist, beruht darauf, dass feste Institutionen – namentlich in Form von Wahlen – vorhanden sind, deren Wirksamkeit die Akteure zu berücksichtigen haben. Sie können sich nur so weit ein willkürliches Vorgehen leisten, wie solche Institutionen fehlen. Institutionen wie etwa Wahlen oder ein Rechtssystem sind jedoch nicht aufgrund ihrer bloßen Existenz wirksam. Wenn die Machthaber sie, wie es heute in Russland der Fall ist, von sich abhängig machen, werden sie zu Fassaden, die das autoritäre Regime verschleiern.

Vladimir Gel’man sieht sich als Vertreter eines „realistischen“ Herangehens an die Analyse des innenpolitischen Machtkampfes. Er legt als Prämisse zugrunde, dass das Streben nach Machtmaximierung letzten Endes stets allein maßgebend ist. Andere Faktoren, etwa der historische Kontext kultureller Traditionen oder das Ethos der handelnden Persönlichkeit, mögen zwar das Erscheinungsbild kolorieren, sind demnach jedoch unwichtig. Jeder andere, so wird angenommen, würde sich unter den gleichen Umständen ebenso verhalten. Jelzin etwa war zwar als demokratisch gewendeter Kommunist an die Spitze Russlands gelangt, agierte dann aber in autoritärer Richtung, als dies seine Macht mehrte, ohne dass Sanktionen zu erwarten waren. Folglich seien die heutigen innenpolitischen Verhältnisse in Russland auf weder die Vergangenheit des Zarenregimes und der bolschewistischen Parteidiktatur noch auf die Neigung und den Charakter des früheren KGB-Funktionärs Putin zurückzuführen. Hätte sich im Ringen um die Nachfolge Jelzins statt seiner der – inzwischen ermordete – Demokrat Boris Nemcov durchgesetzt, so wäre nach Gel’mans Logik die gleiche autoritäre Situation entstanden. Nicht persönliche Absicht, sondern die Existenz oder das Fehlen wirksamer politischer Institutionen gilt als das interaktionsentscheidende Moment.

Die russische Entwicklung nach dem Ende der UdSSR begann auf der Basis von Institutionen der parlamentarischen Demokratie, die den Machtkampf regelten und beschränkten. Der Prozess, der zum autoritären Gegenteil führte, kam, wie Gel’man darlegt, dadurch in Gang, dass die Institutionen vom siegreichen und damit situationsbestimmenden Sieger fortlaufend missachtet und ausgehöhlt wurden und weder die Öffentlichkeit noch andere Kräfte darauf mit empfindlichen, machtbedrohenden Sanktionen reagierten. Jelzin und später Putin konnten daher beim Bemühen um Machtmaximierung immer wieder Schranken ignorieren, die ihnen die demokratischen Institutionen setzten. Sie setzten damit die Institutionen nach und nach außer Kraft und veränderten so die Interaktionsgrundlagen. Die Entdemokratisierung wurde vorangetrieben; die hemmenden Hindernisse bei der Machtausübung entfielen zunehmend. Als entscheidende Schritte auf diesem Weg werden herausgestellt:

Die demokratischen Institutionen blieben zwar formal bestehen, schränkten aber kaum noch die Machtausübung des Präsidenten ein.

Beginnend mit der Ausgangssituation im Sommer 1991 analysiert Gel’man ausführlich Schritt für Schritt, welche Macht dem Akteur im Kreml jeweils zu Gebote stand, zwischen welchen Optionen er wählen konnte, wofür und wogegen er sich entschied, wie dabei die Wirksamkeit der Institutionen durch deren fehlende Respektierung nach und nach beseitigt wurde, welche Sanktionen das Vorgehen der Machthaber gemäß den Institutionen hätten beschränken können. Im Grunde habe sich die Demokratie folgerichtig zum Autoritarismus entwickelt, denn sie sei durch zufällige Ereignisse, nicht beharrliche Anstrengung entstanden und könne sich nicht einfach so, sozusagen von selbst durchsetzen, wenn keine starke Kraft hinter ihr stehe.

Im letzten Teil des Buches wird die Frage gestellt, ob die Analyse, die zur Erkenntnis des inneren Ereigniszusammenhangs führt, auch Prognosen ermöglicht. Gel’man verneint dies: Da tappe der wissenschaftliche Analytiker genauso im Dunkeln wie jeder andere, denn jede Voraussage beruhe auf der Annahme, dass sich bisherige Trends fortsetzen, doch könne es unvorhergesehene Umbrüche geben, die grundlegende neue Interaktionsbedingungen schüfen und damit den Verlauf des Geschehens völlig veränderten. Es seien jedoch Szenarien möglich, die zeigten, was in dem einen oder anderen Fall zu erwarten wäre. Wenn sich dann eines davon realisiere, sei man darauf schon vorbereitet und wisse, womit man es zu tun habe. Gel’man hält vier Szenarios in Russland künftig für möglich und führt dazu Näheres aus: Stagnation im Rahmen der fortgeführten Politik, Verschärfung der inneren Repression, plötzlicher Kollaps des Regimes und „schleichende Demokratisierung“. Zum Schluss widerspricht er der verbreiteten Ansicht, die Russen seien nun einmal an autoritäre Herrscher gewöhnt, so dass sich daran nichts ändern werde: Die Tatsache, dass der Übergang zur Demokratie einmal fehlgeschlagen sei, heiße nicht, dass er künftig wieder scheitern müsse.

Insgesamt hat Gel’man eine Studie über die Entwicklung der Machtverhältnisse und der damit verbundenen Politik im nachsowjetischen Russland vorgelegt, die sowohl für den Politologen, der sich mit Methoden der Analyse von Macht befasst, als auch den Historiker von Interesse ist, der nach den Ereigniszusammenhängen fragt.

Gerhard Wettig, Kommenistorik, Kom,,    

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Vladimir Gel’man: Authoritarian Russia. Analyzing Post-Soviet Regime Changes. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2015. 208 S. = Pitt Series of Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-6368-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Gelman_Authoritarian_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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