Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Zwischen Bündnistreue und staatlichen Eigeninteressen. Die Streitkräfte der DDR und der CSSR 1968 bis 1990. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Oliver Bange. Potsdam: ZMSBw, 2016. 169 S. = Potsdamer Schriften des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, 26. ISBN: 978-3-941571-32-7.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende deutsch-tschechische Sammelband, der mit polnischen und ungarischen Partnern verfasste Publikationen ähnlicher Art ergänzt (Die Streitkräfte der DDR und Polens in der Operationsplanung des Warschauer Paktes. Hrsg. von Rüdiger Wenzke. Potsdam 2010; Die NVA und die Ungarische Volksarmee im Warschauer Pakt. Hrsg. von Hubertus Mack / László Veszprémy / Rüdiger Wenzke. Potsdam 2011), enthält Ergebnisse der Zusammenarbeit des Potsdamer ZMSBw mit dem Prager Militärgeschichtlichen Institut (Vojenský Historický Ústav, VHÚ). Die Beiträge, die vor allem die militärischen Aspekte behandeln, befassen sich mit den Beziehungen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei, verschiedenen Entwicklungen im Warschauer Pakt, den operativen Dispositionen gegenüber der NATO, der dominierenden Rolle der sowjetischen Führungsmacht im östlichen Vereinten Kommando und den Sicherungsmaßnahmen an der Grenze der DDR zur ČSSR. Als Autoren wirkten auf deutscher Seite Oliver Bange, Jochen Maurer, Fritz Minow und Rüdiger Wenzke mit. Die tschechischen Beiträge stammen von Ivo Pejčoch, Daniel Povolný, Karel Sieber und Prokop Tomek.

Im Verhältnis der beiden Staaten hatte die militärische Intervention zur Ausschaltung des tschechoslowakischen Reformkommunismus 1968 zentrale Bedeutung. Ulbricht forderte von allem Anfang an, dieser gefährlichen Häresie mit allen Mitteln ein Ende zu machen, und brannte darauf, seine Truppen bei einer darauf abzielenden Aktion des östlichen Bündnisses einzusetzen. Die NVA wirkte daher aktiv an den Manövern und Vorbereitungen mit, die der Besetzung der ČSSR vorausgingen, und danach verkündeten Presse und Propaganda, die DDR habe sich an dem Vorgehen beteiligt. Erst 1990/91 stellte sich heraus, dass dies nicht der Fall war. Prager Hardliner, die um die Intervention bemüht gewesen waren, hatten Brežnev im allerletzten Augenblick dazu veranlasst, wegen der fatalen Erinnerungen an 1938/39 auf die Verwendung ostdeutscher Soldaten zu verzichten. Auch wenn diese dementsprechend nirgends aufgetreten waren, entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck ihrer Teilnahme. Das machte die DDR in der ČSSR – auch bei ihren Soldaten – noch lange missliebig, auch alsardlin die Regime wieder voll übereinstimmten und sich wechselseitig um Kontakt und Kooperation bemühten.

Ein Sonderproblem der Beziehungen war die Frage der Grenze zwischen beiden Staaten. Weil diese offiziell verbündet und befreundet waren, kamen Sicherungsanlagen und Bewachungsmaßnahmen wie an der Trennlinie zum „feindlichen Westen“ nicht in Betracht. Die rigorose Absperrung, die das SED-Regime an den innerdeutschen Grenzen praktizierte, ließ jedoch fluchtwillige DDR-Bürger an ein Entweichen über die Tschechoslowakei denken, deren Gebiet – im Unterschied zu dem der anderen Volksdemokratien – ebenfalls an das der Bundesrepublik grenzte. Nicht nur in Ost-Berlin, sondern auch in Prag wollte man es dazu nicht kommen lassen. Deshalb baute man ein gestaffeltes Kontrollsystem auf, vereinbarte eine wechselseitige Zusammenarbeit bei den Ermittlungen, und gefasste Ostdeutsche wurden von der ČSSR an die Stasi-Organe ausgeliefert. Da die Öffentlichkeit davon keine Kenntnis erhielt, entstand ein unsichtbares Netz, in dem die zunächst noch gänzlich ahnungslosen Flüchtlinge fast unvermeidlich hängen blieben.

Bestätigt wird der schon in früheren Studien festgestellte Tatbestand, dass der Warschauer Pakt zunächst wenig mehr war als ein Konstrukt, das die Propaganda als Gegenmaßnahme zum Aufbau der Bundeswehr seitens der NATO hinstellte und das eine Argumentationsbasis für die öffentliche Präsentation des DDR-Militärs bot, das bis dahin im Hintergrund gehalten und als kasernierte Polizei etikettiert worden war. Zu einer praktischen Kooperation im Rahmen des östlichen Bündnisses kam es erst in den frühen sechziger Jahren, nachdem die UdSSR zuvor – seit 1951 – die abhängigen Länder ohne multilaterale Organisation zu unterstützenden militärischen Leistungen veranlasst hatte. 1966 begannen mit dem Manöver „Moldau“ regelmäßige staatenübergreifender Großübungen. Im Vereinten Kommando des Paktes, dem nun größere Bedeutung zuwuchs, hatten aber faktisch die sowjetischen Militärs weiter das alleinige Sagen. Als im Sommer 1968 der Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Streitkräfte der ČSSR, General Prchlík, daran Kritik übte und mehr Mitbestimmung forderte, war das aus Moskauer Sicht ein unerträglicher Affront. Zwar wurden die politischen Kräfte in Prag, die ihn unterstützten, durch die folgende Besetzung des Landes entmachtet, doch ging der Kreml wenig später auf das auch anderswo zutage getretene Verlangen ein. Fortan waren alle Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes mit Offizieren im Vereinten Kommando vertreten, ohne dass diese freilich wesentlichen Einfluss auf die operativen Entscheidungen erhielten. Auch wenn in den achtziger Jahren wiederholt über das Problem beraten wurde, kam es zu keiner ernstlichen Korrektur.

Die Kriegsfallplanung der UdSSR, welche die militärischen Vorbereitungen des Warschauer Paktes bestimmte, folgte spätestens seit Anfang der sechziger Jahre dem Postulat der sofortigen raumgreifenden, auf die Eroberung ganz Kontinentaleuropas abzielenden Offensive, wenn der westliche Feind, wie angenommen, angreifen würde. Dieses Konzept ließ erst Gorbačëv fallen, nicht zuletzt in der Absicht, eine Strangulierung der Wirtschaft durch die überbordenden Rüstungslasten abzuwenden. Nicht bekannt war bisher, dass die sowjetischen Militärs, die es gewohnt waren, ganz selbstverständlich von einer Erfüllung aller ihrer materiellen Forderungen auszugehen, in den beginnenden achtziger Jahren aus anderen Gründen an der Möglichkeit einer erfolgreichen Offensivstrategie zu zweifeln begannen. Nach ihrer Einschätzung, die auf guten Spionagekenntnissen beruhte, würde die NATO bald in der Lage sein, aufgrund des Qualitätsvorsprungs ihrer in Einführung begriffenen Waffentechnik zunächst eine örtlich und zeitlich begrenzte Überlegenheit herzustellen, die ihr schlimmstenfalls einen Vorstoß bis zur Oder ermöglichen würde. Daher galt es, vordringlich die Fähigkeit zur Verteidigung zu stärken und Methoden zur gegebenenfalls einzuleitenden Rückeroberung der DDR zu entwickeln. Dabei wurden konventionelle Operationen ins Auge gefasst, denn der westliche Gegner werde erst bei einem drohenden Zusammenbruchs seiner Front zur nuklearen Eskalation greifen. Weil das Offensivkonzept den Generälen nicht mehr brauchbar zu erscheinen begann, konnte Gorbačëv sie leichter zur Akzepanz seines politisch motivierten Entschlusses bewegen, den Warschauer Pakt defensiv auszurichten.

Insgesamt hat die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Militärhistorikern in Potsdam und Prag wichtige neue Erkenntnisse zutage gefördert, die das generelle Bild der Entwicklungen im Warschauer Pakt wesentlich ergänzen und vertiefen.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Zwischen Bündnistreue und staatlichen Eigeninteressen. Die Streitkräfte der DDR und der CSSR 1968 bis 1990. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Oliver Bange. Potsdam: ZMSBw, 2016. 169 S. = Potsdamer Schriften des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, 26. ISBN: 978-3-941571-32-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Bange_Zwischen_Buendnistreue.html (Datum des Seitenbesuchs)

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