Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Oliver Bange / Bernd Lemke. München: Oldenbourg, 2013. XI, 404 S., 7 Abb. = Beiträge zur Militärgeschichte, 75. ISBN: 978-3-486-71719-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Der Sammelband enthält thematisch sehr unterschiedliche Beiträge: zu den Ost-West-Beziehungen in den letzten zwei Jahrzehnten des Konflikts mit der UdSSR, zur Rolle der deutschen Staaten in der NATO und im Warschauer Pakt und im globalen Kontext sowie zu den Militärstrategien beider Bündnisse. Wiederholt heißt es, der Kalte Krieg sei schon lange vor Gorbačëvs Hinwendung zumneuen Denken“ zu Ende gewesen. Während diese Wende nach Auffassung von Oliver Bange und Stephan Kieninger 1970 eintrat, meint Czaba Békés, dass die Konfrontation schon mit den Veränderungen der sowjetischen Politik nach dem Tod Stalins aufhörte. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass die Entspannung eine vor allem vom Interesse an Kriegsvermeidungerzwungene Kooperation“ war, die zur Respektierung des Status quo nötigte unddas ist die entscheidende Theseden Gegensatz zum Kalten Krieg bildete. Diese Prämisse schließt von vornherein aus, dass Tendenzen der Entspannung und des Kalten Krieges nebeneinander wirksam werden können und dass es nach einem entspannten Verhältnis wieder zur Konfrontation kommt. Für Békés ist deswegen die zweite Berlin-Krise kein Kalter Krieg, obwohl Chruščëv 1958–1961 den Staaten des Westens für den Fall der Ablehnung seiner Forderungen den Nuklearkrieg androhte. Bange und Kieninger sind der gleichen Ansicht im Blick auf den Euroraketen-Konflikt 1979–1983. In diesem Fall trifft es zwar zu, dass kein Nuklearkrieg angedroht wurde und dass es sogarwenn auch nur mit Mühegelang, den KSZE-Prozess in eine bessere Zeit hinüberzuretten, doch fand eine überaus heftige Auseinandersetzung statt, in der die UdSSR sich bemühte, durch Schüren von Bedrohtheitsängsten im Westen, vor allem in der Bundesrepublik, die Machtverhältnisse entscheidend zu verändern.

Bange geht auch von der Überzeugung aus, dass die Entspannung, die aufgrund der KSZE-Politik eintrat,ein entscheidender Faktor“ warauf dem Weg zur Implosion kommunistischer Herrschaftssysteme 1989/90 (und damit auch zur Wiedervereinigung Deutschlands)“. Wie Gottfried Niedhart und Kieninger übernimmt er die Idee von Egon Bahr, dass es bei der westlichen Entspannungspolitik darum ging, durch die Akzeptanz des Status quo dessen Überwindung herbeizuführen. Daher wenden er und Kieninger sich gegen das statische, an Gleichgewichtsvorstellungen orientierte Entspannungskonzept von Nixon und Kissinger. Dessen Funktion sei gewesen, dem relativen Machtverlust und der imperialen Überdehnung der USA zu begegnen. Beide hätten die wirtschaftliche Integration Westeuropas gefürchtet und seien der KSZE mitUnverständnis“ gegenübergetreten. Anders als von ihnen erwartet, hätten die dort geführten Verhandlungen die NATO nicht geschwächt, sondern gestärkt. Ihre Weigerung, die Handelsbeziehungen zur UdSSRin der Tradition Kennedys und Johnsons“ auszubauen, habe ihnen die Möglichkeit versperrt, die Gesellschaften der sozialistischen Länder für Kontakte zu öffnen und dadurch ihren inneren Wandel anzustoßen. Der Leser erhält insgesamt den Eindruck, dass primär der KSZE-Prozess und die Bonner Ostpolitik die politische Wende in der UdSSR und den anderen Oststaaten herbeigeführt haben. Es bedarf freilich noch der Klärung, inwieweit diese Faktoren für Gorbačëv maßgebend waren und was ihn sonst noch wie intensiv beeinflusste.

Zu diesen programmatischen Ausführungen generellen Charakters kommen Aufsätze über Einzelfragen. Wanda Jarząbek zeigt, wie die Entwicklung in Polen von der Solidarność-Krise 1981 zur Demokratisierung 1988/89 führte, welche die deutsche Vereinigung erleichterte. Auf der Basis hervorragender Moskauer Quellen legt Mark Kramer dar, dass das NATO-Manöver Able Archer in der angespannten Situation vom Herbst 1983 nicht, wie behauptet worden ist, beinahe den Nuklearkrieg nach sich gezogen hätte: Auf sowjetischer Seite entstand kein Eindruck des akuten Bedrohtseins, der einen Kernwaffeneinsatz hätte veranlassen können. Amerikanische Unterlagen und die eigene Mitwirkung bei Inspektionen liegen dem aufschlussreichen Bericht von Joseph P. Harahan über die Zusammenhänge von europäischer Sicherheit, Rüstungskontrolle und Entwicklung zur deutschen Einheit zugrunde. Tim Geiger stellt die Mitwirkung der Bundesrepublik in der NATO in der Zeit von 1970 bis 1990 dar. Jordan Baev befasst sich umgekehrt mit der Rolle der DDR im Warschauer Pakt. Zur Frage, inwieweit die mutige innere Opposition in der DDR während des Herbstes 1989 zur grundlegenden Wandel der Situation in Deutschland beitrug, äußert sich Rainer Eckert.

Die militärischen Aspekte der Entwicklung in den achtziger Jahren sind das Thema der Beiträge von Siegfried Lautsch, der auf der Basis eigener Erfahrungen wie ostdeutscher Unterlagen die Operationsplanungen der östlichen Streitkräfte im Norden der DDR darstellt, und von Helmut R. Hammerich, dem für seine Ausführungen über das entsprechende Verhalten der westlichen Gegenseite die einschlägigen NATO-Akten zur Verfügung standen. Ein bislang noch wenig beachtetes Forschungsfeld wird von drei weiteren Autoren beackert. Roman Deckert behandelt die militärischen Beziehungen der beiden deutschen Staaten zum Sudan alsExtrembeispiel“ für ihr Konkurrenzverhalten in der Dritten Welt. Klaus Storkmann stellt mit Blick auf die Militärhilfe der DDR an Entwicklungsländer fest, dass ihr einerseits das Motiv der Solidarität mit antiwestlich ausgerichteten Regimes und andererseits das Interesse an der Ausdehnung der eigenen Macht zugrunde lag. Aus dem Beitrag von Jason Verber geht hervor, wie sich die DDR und die Bundesrepublik an der Emanzipation der früheren deutschen Kolonie Südwestafrika/Namibia von der Herrschaft Südafrikas beteiligten.

Die genannten Aufsätze des Sammelbandes zu Einzelthemen sind wichtige und interessante Beiträge zur Forschung. Wer freilich dieim Buchtitel versprochenenneuen Aufschlüsse über das Zustandekommen der deutschen Wiedervereinigung und die Rolle der beiden Bündnisse dabei sucht, wird nicht fündig werden.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Oliver Bange / Bernd Lemke. München: Oldenbourg, 2013. XI, 404 S., 7 Abb. = Beiträge zur Militärgeschichte, 75. ISBN: 978-3-486-71719-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wettig_Bange_Wege_zur_Wiedervereinigung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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