Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 2 Rezensionen online

Verfasst von: Anna Veronika Wendland

 

Martin Aust: Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934 bis 2006. Wiesbaden: Harrassowitz, 2009. 337 S., 25 Abb. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 74. ISBN: 978-3-447-05927-5.

Die Geschichtskulturen unserer östlichen Nachbarn Polen, Ukraine und Russland sind um zwei kriegerische Jahrhunderte zentriert, das siebzehnte und das zwanzigste. In den ersten beiden Dritteln des 17. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Territorien dieser Länder Verdichtungsorte extremer Gewalterfahrungen, die sich im Verlauf offiziell erklärter Kriege sowie in Bauernaufständen, Pogromen und Bürgerkriegen manifestierten. Mitunter amalgamieren die Schichten und Komponenten tradierter Erinnerung: Das war in den betroffenen Gesellschaften häufig der Fall, wenn historisch vorgängige Erfahrungen als Orientierungswissen oder propagandistisches Instrumentarium zur Überwindung oder Erklärung von Krisen und gewaltsamen Umbruchsphasen herangezogen wurden. Martin Aust analysiert in seiner Habilitationsschrift die doppelte Verschränkung der Erinnerung in der Geschichtsregion: Nicht nur sind die Erinnerungskulturen der drei Nationen intensiv und größtenteils konfrontativ aufeinander bezogen, sondern Bezüge auf die Kriege der Frühneuzeit wurden in den Geschichtskulturen aller drei Länder vom 19. Jahrhundert bis heute zur Generierung patriotischen oder auch unterhaltungsindustriellen Mehrwerts intensiv bewirtschaftet. Vor allem waren sie Gegenstand historischer Kontroversen und beständiger Remedialisierungen, so in historischen Opern, in Verfilmungen historischer Romane oder beim Einsatz von Artefakten, letzteres z. B. im Falle der Denkmäler für Minin und Požarskij sowie für Chmel’nyc’kyj und in stalinistischen Plakaten und Wandmalereien.

Aust skizziert die Erinnerungskonjunkturen an die frühneuzeitlichen Kriege im 20. Jahrhundert – die dreißiger Jahre, das Terzennium des Akts von Perejaslav 1954 und die Zeit nach 1991. Er spannt die Erinnerungskulturen und ihre Medien in den Rahmen einer Vielzahl möglicher Analyseverfahren aus verflechtungshistorischer, erinnerungskultureller und diskursgeschichtlicher Perspektive ein. Allerdings ist die Clusterbildung von „Deutungsachsen“ , „Beobachtungsmaßstäben“, „Ebenen“ sowie „Dimensionen“, unter denen so unterschiedliche Fragenkomplexe wie Konzepte kollektiver Identität, Reflexion von Außenbeziehungen, Erinnerungsorte, Narrative, Raumvorstellungen oder travelling concepts gefasst werden, recht verwirrend, während die Kapiteleinteilung klar thematisch-chronologisch strukturiert ist. Etwas knapp fallen die Überlegungen zur Visuellen Geschichte und Mediengeschichte aus, obwohl gerade deren Verfahren angesichts der reichen und überaus aufschlussreichen Quellenbasis von Austs Werk (Denkmäler, Plakate, Illustrationen, Wandmalerien in Metrostationen, Operninszenierungen, Filme) besonders zum Tragen kommen.

Aust dokumentiert anhand dieser visuellen Quellen sowie einer Vielzahl von fiktionalen und historiographiegeschichtlichen Textquellen die um das 17. Jahrhundert gruppierten Interpretationsangebote, ihre Transformationen und Verflechtungen und befragt sie auf ihre Relevanz für die Akteure verschiedener Regionen und Epochen. Für Russland ist der Angelpunkt der frühneuzeitlichen Krisenerfahrung die „Zeit der Wirren“ (smuta) zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Aus den historisch fassbaren Elementen von dynastischem Umbruch, temporärer polnischer Besetzung, innerrussischen Interessendifferenzen und Einung um eine Interessengruppe (nämlich die siegreichen Romanovs) generierte der Zarismus des 19. Jahrhunderts den Mythos vom „Leben für den Zaren“ (so der Titel einer beliebten Oper) und der (Spät-)Stalinismus Epen von Bedrohung, Verrat und schließlicher Befreiung durch gemeinsame Anstrengung unter starker Führerschaft. Dabei verband die Polonophobie die vorrevolutionären mit den sowjetischen Darstellungen.

Die Ukrainer verbinden mit den Kosaken- und Bauernkriegen ab 1648 den Gründungsakt der modernen ‚plebeischen‘ ukrainischen Nation. Die russländische und die stalinistisch-sowjetische Sicht der Geschichte – letztere wiederum im Kontext des Zweiten Weltkriegs und der Annexion der in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörigen westukrainischen Territorien – wertete das Militärbündnis der ukrainischen Kosakeneliten mit dem Zarentum von 1654 als „Wiedervereinigung“ ostslavischer Gebiete und Eingliederung der Ukraine in den Fortschrittsgang der allgemeinrussischen Geschichte. Die ukrainische Sicht, deren Exponenten in der Sowjetukraine seit 1930 zum Schweigen gebracht wurden und die bis 1991 vorwiegend in der Emigration artikuliert wurde, sieht darin den Beginn einer Vertragsbruchsgeschichte und eines politischen und sozialen Abstiegs von der Ukraïna zur ruïna. 1954 wurde mit den pompösen 300-Jahr-Feiern des Akts von Perejaslav der zumindest vorläufige Sieg der erstgenannten Sicht gefeiert. Wie Aust zeigen kann, wurde seit den späten dreißiger Jahren die aus ukrainischer Sicht ambivalente Identifikationsfigur Chmel’nyc’kyj im Zuge des stalinistischen, konservativ-xenophoben Rollbacks zum weisen (weil russophilen) Führer umgestaltet. Gleichwohl stand die stalinistische Geschichtspolitik nach 1944 vor dem Problem, die Polenfeindschaft des Wiedervereinigungs- und des smuta-Narrativs mit der Formierung der Bruderstaatendoktrin in Einklang zu bringen.

Die polnische Historiographie arbeitete sich generationenlang an der durch Chmel’­nyc’kyj-Aufstand und Zweiten Nordischen Krieg bedingten Krise der Adelsrepublik ab, die seit der Wende zum 19. Jahrhundert als Urkatastrophe der Teilungsgeschichte gedeutet wurde. Frühneuzeitliche Konflikte wurden im 19. und 20. Jahrhundert aus der Historiographie in andere sinnproduzierende Systeme und damit in bestimmte Plot-Strukturen und Visualisierungen überführt. So entstand das Narrativ von der bedrohten Zivilisation der katholischen Adelsrepublik, die der „Überflutung“ durch anarchisch-wilde ukrainische Kosakenheere bzw. schwedisch-protestantische Eindringlinge trotzen musste. Überragende Bedeutung hatte dabei das Massenmedium des Sienkiewicz-Romans. Erst die marxistische polnische Historiographie und dann die Solidarność-Jahre und die polnisch-ukrainischen Verständigungsversuche in der Emigration setzten ganz andere Akzente. Erstere waren Produkt eines von außen auferlegten Paradigmenwechsels, den Aust, angelehnt an die zeitgenössische westliche Interpretation, als Sowjetisierung beschreibt, letztere bewirkten eine aus dem polnischen Diskurs heraus entstehende, deutlich wachsende Akzeptanz abweichender ukra­inischer Geschichtssichten in Polen. Erhellend ist in diesem Kontext Austs Darstellung der Gestaltungsspielräume, die sich polnische Historiker selbst unter Zwangsbedingungen verschafften; so wurde das spätstalinistische Dogma von der „Wiedervereinigung“ der Ukraine mit dem Moskauer Russland von der polnischen Historiographie letztlich nie verinnerlicht, und auch die Ausgliederung der ukrainischen Territorien aus dem polnischen Narrativ erfolgte nicht in dem von Moskau (und Kiew) angestrebtem Maße.

Insgesamt handelt es sich hier um einen sorgfältig recherchierten, wichtigen Beitrag zur Geschichte verflochtener kultureller Gedächtnisse in Osteuropa. Die Ukraine-Studien profitieren von der Ergänzung nicht nur älterer Publikationen über die Rolle der Frühneuzeit bei der Formung des (sowjet)ukrainischen historischen Narrativs, sondern auch neuerer Werke wie Yekelchyks „Stalin’s Empire of Memory“. Leider schmälern vermeidbare Längen in den deskriptiven Teilen sowie ein mitunter etwas gestelzter Sprachstil das Lesevergnügen: Themen werden „traktiert“ (S. 19), Opposition wird „prolongiert“ (S. 20), Chmel’nyc’kyj wird „mit einem Gifttrank in praxi nach dem Leben“ getrachtet (S. 95), der Einritt Minins und Požarskijs ist „viktorianisch“ (S. 79).

Abschließend sei mit Blick auf den Titel angemerkt, dass hier ein geopolitisches Klischee unnötig prominent gemacht wird, dem das Anliegen des Buches widerspricht. Überzeugend legt Aust ja dar, dass eine trilaterale Verflechtungsgeschichte kultureller Gedächtnisse, keine Zweierbeziehung (mit dem dritten Faktor als bloßer Funktion) zu analysieren ist. Er bestätigt darüber hinaus, dass die Ukrainer (z. B. uk­rai­nische Historiker oder Literaten) häufig Subjekte und Profiteure der sowjetischen Zurichtung ihrer Geschichtskultur waren, nicht nur Objekte und Opfer russischer bzw. in früheren Perioden auch polnischer Vereinnahmungsversuche. Vor allem auf die Anschlussfähigkeit sowjetukrainischer Narrative des 20. Jahrhunderts an populistische des 19. Jahrhunderts als Voraussetzung für den – durch Repression und Massenmord flankierten – reibungslosen Übergang zur panostslavischen Sowjetukraine der vierziger Jahre und schließlich zur Ukraine als secunda inter pares im sowjetischen Machtgefüge ist hier zu verweisen. Die so generierte, nach wie vor überaus relevante Geschichtsdeutung war und ist jedoch in der Ukraine umstritten. Nicht „Polen und Russland im Streit um die Ukraine“, sondern mindestens ebenso sehr die Ukraine im Streit um Polen und Russland – nämlich um den Anteil von „westlichen“ und „östlichen“ Faktoren in ihrer eigenen Geschichte – ist das große Thema der ukrainischen Nationsbildungsgeschichte und auch ihrer medialen und visuellen Ausformungen.

Anna Veronika Wendland, Marburg/Gießen

Zitierweise: Anna Veronika Wendland über: Martin Aust Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934 bis 2006. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2009. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 74. ISBN: 978-3-447-05927-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wendland_Aust_Polen_und_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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Zitierweise: Anna Veronika Wendland über: Martin Aust Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934 bis 2006. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2009. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 74. ISBN: 978-3-447-05927-5, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, jgo.e-reviews 1 (2011), 2, S. : http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wendland_Aust_Polen_und_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)