Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ernst Wawra

 

Lewis H. Siegelbaum (ed.): The Socialist Car. Automobility in the Eastern Bloc. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2011. VII, 242 S., Abb., Graph., Tab. ISBN: 978-0-8014-7738-6.

Inhaltsverzeichnis:

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Na avtomobile po Sovetskomu SojuzuIm Auto durch die Sowjetunion“ – so lautete der Titel des erstmals 1968 veröffentlichten Reiseführers von Leonid Zadvornyj aus dem Jahr 1980. Im Geleitwort (S. 9) schreibt er:Reisen mit PKW oder Bus gehören heute zu den interessantesten, erlebnisreichsten und meistverbreiteten Arten des Tourismus. Wollen Sie Sehenswürdigkeiten und Naturschönheiten eines Landes, Sitten und Bräuche seines Volkes oder auch seine Errungenschaften in verschiedenen Bereichen aus der Nähe kennenlernen, dann reisen Sie mit dem Auto!In dieser immerhin fast 400 Seiten starken Werbebroschüre wird unter Verweis auf die Schlussakte von Helsinki für die darin angestrebte Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Signatarstaaten und somit für eine Ausweitung des Tourismus, in diesem Fall für die Erkundung der Sowjetunion mittels des eigenen PKWs, geworben. Dabei öffnete sich die Sowjetunion auf den ersten Blick für Individualreisende, allerdings nur auf 15 mehr oder weniger streng festgelegten Routen. Anhand dieses Beispiels lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Individualverkehr und sozialistischer, kollektiver Gesellschaftsordnung aufzeigen; umso mehr, wenn es sich nicht um ausländische Touristen, sondern um die Konsumbedürfnisse der eigenen Bevölkerung handelte. Lewis Siegelbaum hat diese Problematik in seiner 2008 erschienen MonographieCars for Comrades“. (The Life of the Soviet Automobile, 2008) eindrucksvoll aufgezeigt, wobei dort der Schwerpunkt vor allem auf der frühen Geschichte des sowjetischen Automobils lag.

Der hier zu besprechende Sammelband basiert auf dem WorkshopThe Socialist Car, der vom Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Institut Moskau im Juni 2008 organisiert worden war. Die Beiträge  gehen hinsichtlich des gewählten Zeitraums, der behandelten Länder Ostmittel- und Osteuropas und des Zugangs zum ThemaAutomobilüber den primären Untersuchungsgegenstand der wegweisenden Studie Siegelbaums hinaus.

Der Sammelband selbst ist in drei Sektionen gegliedert, denen eine Einleitung des Herausgebers Siegelbaum vorangestellt ist. Dieser umreißt darin den gemeinsamen Ausgangspunkt:The principal objective of this book [] is to explore the interface between the motor car and the state socialist countries of Eastern Europe, including the USSR“ (S. 2). Dabei wurde ein breiter Zugang gewählt, da Fragen der Technikgeschichte ebenso wie solchen der Städteplanung sowie sozialgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Fragestellungen nachgegangen wird. Gleichzeitig ordnet er dieses Vorhaben in die Forschung zum Thema Konsum und zu den unterschiedlichen Entwicklungen in Ostmittel- und Osteuropa ein. Siegelbaum hat in der bisherigen Forschung zum Konsum ein Desiderat erkannt, nämlich die seiner Ansicht nach zu wenig beachtete Rolle des Personenkraftwagens. Grundsätzlich kann dem zugestimmt werden, allerdings muss man dennoch auf die zum Teil breiten Forschungen beispielsweise zur Entwicklung des Automobilbaus in der DDR, wenn auch unter anderen Fragestellungen, hinweisen. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die Arbeiten von Sönke Friedreich (Autos bauen im Sozialismus. Arbeit und Organisationskultur in der Zwickauer Automobilindustrie nach 1945. 2008) oder von Reinhold Bauer (PKW-Bau in der DDR. Zur Innovationsschwäche von Zentralverwaltungswirtschaften. 1999). Zusammengefasst wollen die Autoren des Sammelbandes erreichen, dass diesesbook thus expands upon discussions of socialist consumption by interrogating the role of cars in the evolution of state socialist law, ethics, and a great deal else(S. 5).

Die erste Sektion beschäftigt sich mit den Systemen der Produktion, dem Vertrieb und dem Konsum sozialistischer Automobile, wobei Valentina Fava die Entwicklungen in der ČSSR von 1945 bis 1968 beschreibt, Mariusz Jastrąb einen Einblick in die Situation in Polen gewährt, und György Péteri die Verbindung von Mobilität und Elite bis 1980 in Ungarn nachzeichnet.

Mit der sich ändernden Mobilität und den Auswirkungen auf die sozialistischen Städte befassen sich die Beiträge in der zweiten Sektion. Dabei vergleicht Elke Beyer die Städteplanung der 1960er Jahre in der UdSSR und der DDR, und Brigitte Le Normand weist anhand der Stadt Belgrad die Entwicklung der Stadtplanung unter sich wandelnden Bedingungen nach, da sich der Anteil des Individualverkehrs und der damit engstens verbundene Anteil von PKWs von 1960 bis 1973 um das 15-fache steigerte. Esther Meier beschäftigt sich mit der Modellstadt Nabereženye Čelny, in der sich aufgrund des Ausbaus der LKW-Fabrik KamAZ die Bevölkerungszahl in den 1970er Jahren fast um das Achtfache erhöhte. Eli Rubin schließt diese Sektion mit einer Einordnung desSystems des Trabants, alsTeil des Systems(S. 136) und mit den Verbindungen zur städtebaulichen Entwicklung am Beispiels Marzahns ab.

Die dritte SektionSocialist Car Cultures and Automobilitywird durch den Beitrag von Luminiţa Gătejel überthe Common Heritage of the Socialist Car Cultureeröffnet, wobei sie festhält, dass [t]he Polski Fiats, Soviet Ladas, Yugoslav Zastavas, and Romanian Dacias, manufactured on the basis of Western licenses, entered socialist markets like Trojan horses and brought with them the shine of capitalist consumer culture“ (S. 147). Kurt Möser hat für seinen Beitrag einen Zugang gewählt,that focuses on the relationship of users to technological objects and systems but also brings in other aspects of society and culture“ (S. 157). Seine Ausführungen zumAutobasteln“ erinnern stark an die Situation in der Bundesrepublik, wobei für ihnthe sociopolitical consequences of individual modification by users“ (S. 169) den Unterschied zur DDR manifestierten. Entsprechend dem westlich-amerikanischen Bild vom selbsternanntenKing of the Roads“ untersucht Siegelbaum dieLittle Tsars of the Roadim großen Zeitraum von 1920 bis 1980, wobei von der romantisierenden Freiheit im Alltagsleben wenig übrig blieb. Den verschiedenen zugeschriebenen und selbstgewählten Rollen der Frauza rulem(S. 188) in der Sowjetunion und in der russischen Gesellschaft geht Corinna Kuhr-Korolev nach.

Die ausgesuchten illustrierenden Schwarzweiß-Bilder zeigen vor allem die städtebaulichen Entwicklungsschritte. Weiterhin veranschaulichen mehrere tabellarische Zusammenstellungen beispielsweise die Dichte der privaten PKWs für den Zeitraum der 1970er bis in die späten 1980er Jahre, wobei man sich einige Vergleichszahlen gewünscht hätte, im Falle der DDR aus der Bundesrepublik Deutschland und beispielsweise bei der Sowjetunion aus den Vereinigten Staaten von Amerika.

Das sozialistische Autodazu fallen einem je nachdem, in welchen ostmittel- und osteuropäischen Ländern man selbst vorwiegend unterwegs war, ganz unterschiedliche Automarken ein: Ob der durch die Ostalgiewelle in zahlreichen Filmen zur Ikone aufgestiegene Trabant, der 126er Polski-Fiat, der mit polnischem Kennzeichen schwer bepackt in den 1990er Jahren nun auch in Italien auftauchte, oder beispielsweise der Žiguli, der einen alsPrivat-Taxiin Moskau und St. Petersburg vom Flughafen zur Innenstadt und zurückbrachte. Wer in diesem Band technikgeschichtliche Fakten über die Entwicklung einzelner Marken und Modelle erwartet hat, wird nicht fündig. Dafür erfährt der Leser aber, wiethe socialist carüber seine reine Funktion als Transportmittel hinaus weiterwirkte und wie sich, vom AlltagsgebrauchsgegenstandAutoausgehend, Informationen für (interdisziplinäre) Forschungen beispielsweise zu Städtebau, Konsumverhalten und der Genderfrage ebenso wie zum veränderten Verhältnis von sozialistischem Staat zur jeweiligen Bevölkerung finden lassen. Davon gibt dieser Sammelband einen profunden Eindruck.

Ernst Wawra, Göttingen

Zitierweise: Ernst Wawra über: Lewis H. Siegelbaum (ed.): The Socialist Car. Automobility in the Eastern Bloc. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2011. VII, 242 S., Abb., Graph., Tab. ISBN: 978-0-8014-7738-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wawra_Siegelbaum_Socialist_Car.html (Datum des Seitenbesuchs)

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