Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ernst Wawra

 

Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe. Hrsg. von Jörn Happel und Christophe von Werdt unter Mitarbeit von Mira Jovanović. Berlin, Wien, Zürich: Lit Verlag, 2010. 364 S., 30 Abb. = Osteuropa, 3. ISBN: 978-3-643-80015-2.

Politische Plakate und (Geschichts-)Karten besitzen in der Geschichtswissenschaft eine ‚traurige‘ Gemeinsamkeit: Sie dienten lange Zeit sowohl Geschichtslehrern als auch Historikern zur reinen Illustration des Gesagten und Geschriebenen. Der ihnen innewohnende Wert als historische Quelle wurde in der deutschsprachigen Osteuropaforschung für die Plakate erst im Zuge des visual turn mit Frank Kämpfers Untersuchung der „Rote Keil“ (1985) erkannt. Ist der spatial turn oder topological turn spätestens mit Ute Schneiders wegweisender Untersuchung (Die Macht der Karten, 2004) und Karl Schlögels „Im Raume lesen wir die Zeit“ (2003) in der deutschen Geschichtswissenschaft angekommen, entdecken nun die Osteuropahistoriker den Quellenwert von Karten zu Ost- und Ostmitteleuropa.

Vom 25. bis 27. September 2008 fand die interdisziplinäre Tagung „Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe“ in Bern in der dort ansässigen Schweizerischen Osteuropabibliothek statt, woraus der hier zu besprechende gleichnamige Sammelband entstanden ist. Dieser umfasst vier chronologisch und thematisch gegliederte Blöcke, die sich mit „Kartenplänen“, „Kartengrenzen“, „Karten, Grenzen, Ethnien“ und „Kartenpolitik“ beschäftigen und durch einen einzelnen Beitrag zur „Kartenpoesie“ Ergänzung finden. Alle beteiligten Autoren verstehen Karten als historische Quelle, die „durch die jeweilige Kontextualisierung zum Gegenstand historischer Forschung werden“ (S. 8) soll.

Frithjof Benjamin Schenk bietet einen gelungenen Einstieg in den Sammelband und in den Block „Kartenpläne“. Seine Einleitung „Raumbilder“ (S. 13–15) ergänzt und ersetzt damit die fehlenden methodischen Gedanken des zu kurz geratenen Vorwortes. Im Folgenden stellt er den Eisenbahndiskurs im Russländischen Reich der 1830er1860er Jahre dar, der je nach Blickwinkel – ökonomisch, agrarisch, national, strategisch und militärisch – ganz unterschiedlich ausgefallen ist, was sowohl in den realen wie auch den kognitiven Karten Ausdruck gefunden hat. Anton Kotenko zeigt mit der „Construction of Ukrainian National Space by the Intellectuals of Russian Ukraine, 186070s” einerseits die Wahrnehmung des Raumes durch ukrainische Intellektuelle und andererseits den darauf aufbauenden Diskurs über den ukrainischen nationalen Raum auf. Von einer einzelnen handgezeichneten Karte ausgehend weist Jörn Happel in seinem Beitrag „Deutsche Sabotageträume in Russland während des Ersten Weltkriegs“ die Raumphantasien deutscher Militärs anhand einer Planungskarte nach, und demonstriert auf plausible Weise, wie eine Karte zur historischen Quelle wird und wie der Historiker die sich aus der Analyse der Karte ergebenden Fragen mit Hilfe von schriftlichen Quellen beantworten kann.

Lutz Häfner leitet den zweiten Block „Kartengrenzen“ mit seinem Beitrag über „Wandel und Funktion der russlandbezogenen Kartographie vom Moskauer Reich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts“ ein. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Bedeutung der Ostgrenze des europäischen Kontinents und wie die sich entwickelnde russländische Kartographie – im Spannungsfeld zwischen Geheimhaltung und Kooperation mit dem Westen – eines der Mittel war, den Anspruch Peters I. , eine europäische Großmacht zu sein, umzusetzen. Der Beitrag von Christophe von Werdt beschäftigt sich mit der „Entdeckung Russlands im äussersten Norden“ und behandelt dabei zwei Themen: Da sowohl Tagung als auch der Sammelband eng mit der Sammlung „Rossica Europeana“ in Bern verbunden sind, stellt er zu Beginn ihren Sammler, Peter Sager, sowie ihre Entstehungsgeschichte vor. Die sich anschließende Beschreibung und Einordnung der Straßburger Ptolemäus-Ausgabe von 1522 besticht vor allem deshalb, da von Werdt großen Wert darauf legt, dass Karten zu den schriftlichen Quellen ihrer Zeit in Beziehung gesetzt werden müssen, um nicht einer Fehlinterpretation zu erliegen. Annina Cavelti zeigt auf, wie unterschiedlich und gleichzeitig ähnlich im 16. Jahrhundert Russland von westlichen Reisenden, in diesem Fall von Sigmund von Herberstein und Anthony Jenkinson, kartographiert wurde. Wenngleich der Rezensent nicht vollständig von den zugrunde gelegten Vergleichskriterien überzeugt wurde, gibt Cavelti dennoch ein profundes Beispiel für den Quellenwert von Karten, die „Erkenntnisse liefern, die aus rein textlichen Quellen nicht zu gewinnen sind“ (S. 152). Der Frage, wie groß Sibirien sei, geht Kristina Küntzel-Witt mittels dreier Protagonisten des 18. Jahrhunderts nach. Anhand der Arbeiten von Joseph Nicolas Delisle, Samuel Engel und Gerhard Friedrich Müller weist sie das große Unbehagen in „Europa“ vor der Größe Russlands nach, was sich in verzerrten Karten widerspiegelte.

Der Block „Karten, Grenzen, Ethnien“ wird durch einen theoretischen Beitrag von Peter Jordan eingeleitet, der am Beispiel von nationalen und ethnischen Karten die Methodik und Objektivität von Karten hinterfragt. Dabei stellt er verschiedene Filter und Methoden vor, die einer unabsichtlichen Manipulation vorbeugen können oder aber einer absichtlichen förderlich sein können. Diese Möglichkeiten – Flächenmethode, Punktstreumethode und Diagrammmethode – zu kennen, sei vor allem deshalb wichtig, da der Betrachter einer Karte „im Unterschied zu Texten oft eine größere Nähe zur ‚Wirklichkeit’“ (S. 178) und damit einen höheren Wahrheitsgehalt zubillige. Auf diesen Beitrag baut Franz Sz. Horváth mit der Vorstellung des Mitteleuropa-Atlas von András Rónai auf. Die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf die wissenschaftliche Arbeit eines Kartographen wird an diesem Beispiel deutlich: Ziel war eine unterstützende und belegende Funktion für die ungarische Außenpolitik in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenngleich der Atlas nie verwendet wurde, lassen sich daran dennoch die Konstruktion realer Räume und die kulturnationalen Vorstellungen dieser Zeit nachzeichnen. Róbert Keményfi befasst sich wiederum mit Ungarn, wo ab Mitte des 19. Jahrhunderts versucht wurde, „eine einheitliche Idee der Nation und des Staatsraumes zu entwickeln“ (S. 201f.), jedoch auf Kosten der nationalen Minderheiten. Ethnische Karten, wie die „Carte Rouge“, könne man „gemäß ihrer Funktion einen Platz im System der psychologischen Kriegsführung […] zuordnen“ (S. 214). Die unterschiedliche Entwicklung, den divergierenden Aufbau sowie die Verwendung von historischen Schulatlanten untersucht Tomasz Kamusella. Dabei spielte bei der Frage nach der Erstellung und Anschaffung von Schulatlanten wohl weniger eine Rolle, ob es sich um einen reichen oder einen armen Staat handelt, sondern letztlich der politische Wille, ob ein solcher Atlas gewünscht ist oder nicht.

Jörg Stadelbauer verweist im ersten Beitrag des vierten Blockes „Kartenpolitik“ darauf, dass Konstruktionen von Karten auch in der Gegenwart stattfinden, genauesten Messmethoden zum Trotz. Von besonderer Bedeutung für solche Konstrukte waren die Konferenzen in Jalta und Potsdam, da für die nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Staaten „erhebliche Diskrepanzen zwischen Außenwahrnehmung und Selbstdarstellung“ (S. 238) bestanden. Für die Analyse von mentalen Konstruktionen sei demnach die „De-Konstruktion von Diskursen“ (S. 239) notwendig. Ausgehend von der Charta der deutschen Heimatvertriebenen und einer „Phantasiekarte ohne historische Grundlage“ (S. 242) behandelt Tobias Weger den „sogenannten ‚deutschen Osten‘ im Kartenbild des 20. Jahrhunderts“ (S. 242). Dessen Tradition könne man bis ins Wilhelminische Deutsche Reich zurückverfolgen und seine Abbildung auf Landkarten wirke bis heute fort. So lasse sich eine Kontinuität „bis hin zum neuen Vertreibungsdiskurs der vergangenen Jahre“ (S. 264) feststellen. Weger erkennt in diesen Konstruktionen einen „Schlüssel zum Verständnis aktueller geschichtspolitischer Missklänge zwischen Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik“ (S. 264). Wie aus Karten auf polnischen Plakaten und den verwendeten Piktogrammen „Identität“ (S. 265) geschaffen werden sollte, weist Antje Kempe nach. Sie verdeutlicht damit die Aufgaben, die den Plakaten, auf denen die Westgrenze Polens und die zu besiedelnden Gebieten abgebildet waren, zukamen: Repräsentation des „neuen territorialen Status“ und Visualisierung des Raumes „für die eigene Bevölkerung“ (S. 276). Mit einem anregenden Zwischenbericht von Christian Lotz wird die Darstellung der Grenzen der Bundesrepublik, der DDR und Polens, auf für das Ausland bestimmte Karten, gezeigt . Da über die „Grenzverläufe und Gebietsansprüche“ recht unterschiedliche Vorstellungen vorherrschten, resultierten daraus wiederum divergierende Kartenbilder, welche bisweilen in einer Art „kartographischer Schizophrenie“ (S. 289) endeten. Es unterschieden sich z.B. die Grenzen bei den zur Außendarstellung und den innerhalb der Bundesrepublik – etwa für Schulatlanten verwendeten Karten.

Ein weiteres Forschungsfeld, über die engeren Grenzen der Geschichtswissenschaft hinaus, eröffnet Daniel Henseler, der diesen Sammelband mit einem Beitrag über Adam Zagajewskis Wiederaneignung Krakaus abschließt. Dabei steht keine klassische Karte bzw. in diesem Fall ein Stadtplan im Mittelpunkt, sondern die dichterische Beschreibung einer Stadt, so dass in der Imagination des Lesers mit Hilfe von 29 Gedichten des Zyklus „Powrót“ (Rückkehr) eine Karte entsteht.

Im Anhang findet sich neben der verwendeten Literatur eine umfassende Zusammenstellung von osteuropäischen Atlanten und Karten sowie die Wiedergabe von leider ‚nur‘ 30 meist gut aufbereitete Karten. Den Abdruck aller detaillierter angesprochenen Karten hätte man sich an einigen wenigen Stellen gewünscht, um beispielsweise die Straßburger Ptolemäus-Ausgabe von 1513 mit der von 1522 oder auch die divergierende Darstellung der deutsch-deutschen bzw. deutsch-polnischen Grenze durch die Bundesrepublik und die DDR miteinander vergleichen zu können.

Im Unterschied zu vielen anderen Sammelbänden bilden die sehr gut gewählten Beiträge, trotz der zeitlichen und räumlichen Disparität, eine schlüssige inhaltliche Einheit und geben einen breiten und überzeugenden Einblick in den aktuellen Stand der Forschung. Der Leser wird somit zu einer noch stärkeren Hinterfragung von Karten angeregt und darf gleichzeitig auf die noch folgenden Ergebnisse dieser Forschungsrichtung gespannt sein.

Ernst Wawra, Erlangen

Zitierweise: Ernst Wawra über: Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe. Hrsg. von Jörn Happel und Christophe von Werdt unter Mitarbeit von Mira Jovanović. Berlin, Wien, Zürich: Lit Verlag, 2010. 364 S., 30 Abb. = Osteuropa, 3. ISBN: 978-3-643-80015-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wawra_Osteuropa_kartiert.html (Datum des Seitenbesuchs)

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