Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ernst Wawra

 

From Helsinki to Belgrade. The First CSCE Follow-up Meeting and the Crisis of Détente. Ed. by Vladimir Bilandžić / Dittmar Dahlmann / Milan Kosanović. Göttingen: Bonn University Press, 2012. 334 S. = Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, 10. ISBN: 978-3-89971-938-3.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1017942455/04

 

Am 1. August 1975 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der meisten europäischen Staaten, der USA und Kanadas in Helsinki die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), welche den Höhepunkt der Entspannungspolitik der späten sechziger Jahre und der ersten Hälfte der siebziger Jahre darstellte. In Korb IV des Schlussdokumentes der KSZE war bereits der 15. Juni 1977 als Termin für das Vorbereitungstreffen für die eigentliche Folgekonferenz in Belgrad festgehalten worden. Damit war die KSZE in einen beginnenden Prozess übergeleitet worden. Doch bis Mitte des Jahres 1977 sollte sich das außenpolitische Klima massiv ändern. So sah sich die sowjetische Führung zunehmend als Opfer einer Propaganda-Kampagne des Westens. Zu dieser Stimmungslage trug der 1976 gegründete Helsinki-Ausschuss des amerikanischen Kongresses bei, vor dem aus der Sowjetunion ausgereiste bzw. ausgebürgerte Dissidenten medienwirksam über Menschenrechtsverletzungen aussagten. Des Weiteren hatte sich Jimmy Carter bei den Präsidentschaftswahlen gegen Gerald Ford durchgesetzt, er trat offensiv für die Einhaltung der Menschenrechte ein und unterstützte einzelne Andersdenkende. Am 20. Januar 1977, also ein knappes halbes Jahr vor dem Beginn des Vorbereitungstreffens, stellte Jurij Andropov dem Zentralkomitee der KPdSU unterschiedliche Maßnahmen vor, wie man gegen verschiedene Mitglieder der sowjetischen Bürger- und Menschenrechtsbewegung vorgehen könnte. Dabei formulierte er neben der Niederschlagung eben jener unerwünschten Bewegung weitere Ziele: Es müsse den Regierungen der westlichen Länder „die Aussichtslosigkeit ihrer Politik der Erpressung und des Drucks in den Beziehungen zur Sowjetunion gezeigt werden.“ Darüber hinaus solle man betonen, dass die Sowjetunion an der Politik der Entspannung festhalten werde, aber jeden Versuch der Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu stoppen gedenke. Anhand dieser Aussagen wird bereits die grundsätzliche Strategie für die Folgekonferenz in Belgrad ersichtlich: Sämtliche Vereinbarungen, die getroffen worden waren, beruhten auf dem Vorbehalt der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten (Prinzip VI).

Anlässlich des 30. Jahrestages der Folgekonferenz fand vom 8. bis 10. März 2008 in Belgrad die Konferenz From Helsinki to Belgrade. The First CSCE Follow-up Meeting in Belgrade 1977/78 statt, woraus mit einiger Verzögerung der hier zu besprechende Sammelband entstanden ist. Mit dieser Tagung stellten die Organisatoren eben jene erste Folgekonferenz in den Mittelpunkt, die zumeist übergangen wird, wenn die Betrachtung der Entwicklung von der „Schlussakte von Helsinki“ zur „Charta von Paris für ein neues Europa“ 25 Jahre später im Mittelpunkt des Interesses steht.

Die drei Herausgeber des Bandes – Vladimir Bilandžić, Dittmar Dahlmann und Milan Kosanović – haben es sich zum Ziel gesetzt, eine Neubewertung der Belgrader Konferenz vorzunehmen, da diese in der Forschung vernachlässigt bzw. unterschätzt worden sei. Sie habe eine enorme Bedeutung gehabt, da die Sowjetunion hier einsehen musste, dass sie sich mit ihrer Interpretation der Schlussakte nicht durchsetzen konnte, und weil das internationale Helsinki-Netzwerk seine Kooperation mit den nationalen Delegationen startete und die Carter-Administration das Menschenrechtsthema forcierte.

An die einleitenden Betrachtungen von Klaus Hildebrand schließen sich mehrere Beiträge an, die die Zeit vor der eigentlichen Folgekonferenz ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen. So untersucht Rinna Kullaa in ihrer Arbeit finnische und jugoslawische Modelle für Neutralität und betont, dass der KSZE-Prozess nicht auf die beiden Supermächte beschränkt war, sondern vielmehr eine europäische Angelegenheit darstellte. Ljubodrag Dimić und Jovan Čavoški zeichnen die Außenpolitik Jugoslawiens vor allem im Vorfeld der Folgekonferenz nach, wobei ein Schwerpunkt auf dem Projekt einer europäischen Sicherheitskonferenz (ESK) liegt. Hierauf folgt ein Beitrag über Bulgarien von Jordan Baev, neben der DDR und Polen ein Beispiel aus den Warschauer-Vertrags-Staaten. Robert Hughes beschäftigt sich mit dem Verhältnis Großbritanniens zur Entspannungspolitik und Harald Biermann verfolgt den sich ändernden Stellenwert der KSZE in den USA von Nixon bis Carter.

Die eigentliche Folgekonferenz in Belgrad wird in der zweiten Hälfte des Bandes behandelt. So untersucht Thomas Fischer die Bemühungen der neutralen und nicht-paktgebunden Staaten (N+N-Staaten), beispielsweise Österreichs, Finnlands oder der Schweiz, wobei er auf deren schwindende Einflussmöglichkeiten im Laufe der Belgrader Konferenz hinweist. Breck Walker ergänzt den bereits erwähnten Beitrag von Harald Biermann, indem er das Auftreten der Carter-Administration in Belgrad, welches sich in den Fragen der Einhaltung von Menschenrechen entscheidend von dem früherer Regierungen unterschied, analysiert. Hatte Jimmy Carter die Frage der Menschenrechte bereits in seinem Wahlkampf gegen Gerald Ford für sich entdeckt, führte er diese Strategie nach anfänglicher Skepsis in der aktiven Außenpolitik fort. Dem Rat von Zbigniew Brzezinski folgend, ließ er seinen Delegationsleiter Arthur Goldberg, der bereits als dezidierter Anwalt der Menschenrechte bekannt war, mit seiner Taktik des naming of names, die zu einer direkten und unausweichlichen Konfrontation mit der Sowjetunion führen musste, gewähren.

Die manchmal anzutreffende Vorstellung, dass zum Beispiel die EG- und NATO-Staaten und die USA mit einer Stimme innerhalb des KSZE-Prozesses sprachen, trifft, wie auch in diesem Band gezeigt wird, nicht zu, da nicht nur andere Ziele, sondern vor allem andere Wege zu deren Erreichung verfolgt wurden. Dies zeigen in Ansätzen die Ausführungen über die EG-Staaten von Angela Romano und überdeutlich die von Oliver Bange, der die Eigenständigkeit der bundesrepublikanischen KSZE-Politik beispielsweise gegenüber den USA überzeugend herausarbeitet. Gewünscht hätte man sich an dieser Stelle einen eigenen Beitrag zur Rolle Frankreichs, welches ja wiederum eine gänzlich andere Strategie als die USA bzw. die Bundesrepublik beispielsweise im Umgang mit osteuropäischen Andersdenkenden vertrat.

Die Frage nach der Einhaltung der Menschenrechte, die gegen den Willen der Warschauer-Vertrags-Staaten in die Verhandlungen aufgenommen worden war, wurde durch die Rezeption dieses außenpolitischen Impulses in ebenjenen Ländern virulent. Einen allgemeinen Eindruck davon vermittelt der Beitrag von Wolfgang Eichwede, der sich mit der Menschenrechtsbewegung in den ostmittel- und osteuropäischen Ländern beschäftigt, wobei durch die gleichzeitige Behandlung von mehreren Beispielen aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Polen die Heterogenität der Folgewirkungen der Schlussakte von Helsinki sowie die unterschiedliche Inanspruchnahme durch die Andersdenkenden in diesen Ländern zu sehr in einer scheinbaren Gleichartigkeit verschwimmt. Zudem ist Eichwede vehement zu widersprechen, wenn er konstatiert: „Nobody could have foreseen that Helsinki would create new personalities and thrust them onto the European diplomatic stage.“ (S. 269) So war es eben nicht die Schlussakte von Helsinki, die die Akteure schuf, sondern die Andersdenkenden selbst kreierten ein Instrument, durch welches die Bestimmungen von Helsinki eine ganz andere Richtung nahmen. Erst so entwickelte sich eine Evaluation der Implementierung der Schlussakte in den Signatarstaaten auf den in Korb IV bereits vorgesehenen Folgekonferenzen wie eben in Belgrad. Zum anderen ist kritisch zu hinterfragen, ob es sich beispielsweise bei den entstehenden Helsinki-Gruppen wirklich um „new actors“ (S. 261) handelte. So rekrutierten sich die Mitglieder der Moskauer Helsinki-Gruppe oder der polnischen Gruppe Komitet Obrony Robotników (KOR) aus dem Reservoir von Andersdenkenden und Dissidenten, die meist schon seit vielen Jahren und z. T. Jahrzehnten für die Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte in den jeweiligen Ländern eintraten. Darüber hinaus werden mit der Beschreibung als „neue Akteure“ die Ursprünge und Traditionslinien dieser Bürger- und Menschenrechtsbewegungen vergessen und allzu eindimensional ein „Helsinki-Effekt“ (Daniel C. Thomas) beschworen.

Joachim Scholtyseck skizziert auf Basis der neuesten Forschungsergebnisse konzise das Aufgreifen der menschenrechtlichen Dimension der Schlussakte durch die Dissidenten und die damit verbundenen gesellschaftlichen Folgen der KSZE in der DDR – Stichwort Ausreisebewegung. Vor welche Herausforderungen die Regierungen vor allem in den Warschauer-Vertrags-Staaten in diesem Zusammenhang standen, legt Wanda Jarząbek in ihrem Beitrag über die Situation in Polen überzeugend dar.

Positiv zu vermerken ist, dass die Beiträge – von denen einzelne bereits in ähnlicher Form publiziert worden sind –, hinsichtlich der verwendeten Literatur aktualisiert wurden und auch nach 2008 veröffentliche Untersuchungen in den meisten Fällen im Anmerkungsapparat Berücksichtigung gefunden haben. Es soll an dieser Stelle nicht über das vielzitierte Fehlen eines roten Fadens lamentiert werden, allerdings konnte bereits aus der skizzierten Zusammenstellung ersichtlich werden, dass dem Sammelband eine innere Ordnung fehlt. Auffällig bleibt dabei zudem, dass der Band trotz mancher argumentativ starker und aus den Quellen geschöpfter Beiträge hinsichtlich seiner inhaltlichen Geschlossenheit und des Versuchs, die Komplexität der Entwicklungen, die von Helsinki 1975 nach Belgrad 1977 führten, annähernd darzustellen, hinter der eigentlichen Tagung zurückbleibt, da es offensichtlich nicht gelungen ist, viele der dort aufgetretenen Forscher im Nachhinein für einen Beitrag zu gewinnen. Das Hauptmanko allerdings bleibt die fehlende Schwerpunktsetzung: Zwar ließen sich sicherlich (gute) Gründe anführen, warum sich drei von 14 Beiträgen mit Jugoslawien beschäftigen, es bleibt aber rätselhaft, weshalb nicht auch Titos Rolle als Gastgeber der ersten Folgekonferenz adäquat dargestellt wird.

Zudem setzt sich kein einziger Beitrag explizit mit der außenpolitischen Konzeption der Sowjetunion auseinander. Gerade in diesem Zusammenhang stellt sich doch die Frage, ob es wirklich ein Scheitern der sowjetischen KSZE-Strategie gab oder ob einem das Wissen über den weiteren Verlauf der Geschichte nicht den Blick auf die Möglichkeiten Ende der siebziger Jahre verstellt? Kann man wirklich von einem Scheitern der außenpolitischen Agenda Leonid Brežnevs sprechen? Konnte man sich mit der eigenen Interpretation der zehn Prinzipien wirklich nicht durchsetzen? War es hingegen nicht sogar ein Akt der Stärke der sowjetischen außenpolitischen Strategie, auf den amerikanischen Druck nicht einzugehen und dem „Lärm um die ‚Menschenrechte‘“, wie in der Pravda am 12. Februar 1977 zu lesen war, einfach die eigene Lesart der Schlussakte im Allgemeinen und die Betonung des Prinzips VI entgegenzustellen?

Nachdem sich bereits kurz nach der Unterzeichnung der Schlussakte abzeichnete, dass es bezüglich der Umsetzung des Prinzips VII, welches die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit umfasst, und der Inhalte des III. Korbes zu grundsätzlichen Meinungsunterschieden zwischen den „westlichen und östlichen“ Ländern kommen würde, wurde dann die Frage nach der Einhaltung der Menschenrechte zum dominierenden Streitthema der Folgekonferenzen in Belgrad und Madrid. Bekanntermaßen war dann auch das Ergebnis von Belgrad dieser Konstellation geschuldet. So wurde im abschließenden Dokument des Belgrader Folgetreffens vom 8. März 1978 festgehalten, dass man sich in Belgrad getroffen habe und weiterhin über die Vertiefung von Beziehungen gesprochen habe. Man sei unterschiedlicher Meinung, allerdings gleichzeitig entschlossen, die Bestimmungen der Schlussakte zu verwirklichen. Der Haupterfolg der ersten KSZE-Folgekonferenz liegt also darin, dass man sich trotz der Uneinigkeit dennoch darauf verständigen konnte, eine weitere Folgekonferenz abzuhalten. Um die Bedeutung, die die Belgrader Folgekonferenz bei der wiederaufgekommenen Konfrontation der Blöcke einnahm, zu verstehen, wäre eine genaue Analyse der beiden Supermächte unerlässlich gewesen. Von den unterschiedlichen Lesarten und Interpretationen der Schlussakte von 1975 und den daraus resultierenden Problemen für die erste Folgekonferenz in Belgrad, durch die der KSZE-Prozess einen anderen und überraschenden Verlauf nahm, als noch zwei Jahre vorher angenommen, davon kann der vorliegende Sammelband dagegen in Ansätzen berichten.

Ernst Wawra, Göttingen

Zitierweise: Ernst Wawra über: From Helsinki to Belgrade. The First CSCE Follow-up Meeting and the Crisis of Détente. Ed. by Vladimir Bilandžić / Dittmar Dahlmann / Milan Kosanović. Göttingen: Bonn University Press, 2012. 334 S. = Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, 10. ISBN: 978-3-89971-938-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wawra_Bilandzic_From_Helsinki_to_Belgrade.html (Datum des Seitenbesuchs)

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