Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Justyna A. Turkowska

 

Hygiene als Leitwissenschaft. Die Neuausrichtung eines Faches im Austausch zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert. Internationale Tagung, Leipzig, 7.–8.10.2013. Hrsg. von Ortrun Riha / Marta Fischer. Aachen: Shaker, 2014. 394 S., Abb., Tab. = Relationes, 16. ISBN: 978-3-8440-3059-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Der in der Relationes-Schriftenreihe Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin erschienene Sammelband Hygiene als Leitwissenschaft geht aus einer gleichnamigen internationalen Konferenz hervor und knüpft mit seiner Ausrichtung an eine vielseitige, vorwiegend medizin- und wissenshistorische Forschung an, die sich in den letzten Jahren verstärkt der Thematik der Sozialhygiene und Sozialmedizin auch im osteuropäischen, hier russischen, Kontext widmete. Der Sammelband präsentiert in 18 Beiträgen die Entwicklung der Hygiene als Wissenschafts- und Universitätsfach, ihre Relevanz für die Gesundheitspolitik im Russischen Reich und in der Sowjetunion sowie ihre definitorischen Momente und Einflussbereiche. Dabei fokussiert er zweierlei: Im ersten Teil findet man Beiträge zu den Anfängen der Hygiene und ihrer konzeptionellen und personenbasierten Aufstellung. Dem zweiten Teil liegen die sozial- bzw. gesundheitspolitischen Dimensionen der Hygiene sowie ihre Öffentlichkeitswirksamkeit zugrunde. Eine sichtbare Kennzeichnung und eine leichte Übertragung der Beiträge von ihrer ursprünglichen Vortragsform in eine leserfreundlichere Beitragsform, die zwar in den meisten, aber eben nicht allen Fällen vorgenommen wurde, wären wünschenswert gewesen.

Der Sammelband eignet sich aufgrund der Breite und des Detailreichtums der darin enthaltenen Beiträge in erster Linie hervorragend als ein Nachschlagewerk . Der Fokus liegt auf der Zeit des 18., 19. und des Beginns des 20. Jahrhunderts. Viele Beiträge – von Daria Sambuk, Ortrun Riha, Leonid P. Terentev, Valerij Schütz – sind als Einführungen in das Thema zu verstehen. In dieser Funktion zielen sie darauf ab, einen Überblick über die Anfänge des medizinisch-hygienischen Transfers, der Medizinalpolitik und -verwaltung im Russischen Reich, über die Gründung der ersten hygienischen Lehrstühle oder aber die wichtigsten Träger der Hygienewissenschaft zu verschaffen.

Diese sich über Zahlen, detailgetreue „Modernisierungsschritte“, Karrierebeschreibungen, kurze Aufenthalts- oder Freundschaftsberichte, die Aufzählung von Veröffentlichungen etc. erstreckenden Darstellungen scheinen ‚große‘ bekannte Namen oder aber den Einzug neuer Techniken als Zeichen und Garanten des Wissenstransfers und enger russisch-deutscher Beziehungen anzusehen, ohne dass ein Blick hinter diese Kulissen gewährt oder die dahinter stehenden Materialitäten und handlungsrelevanten Praktiken überprüft werden. Eine Beschreibung der Veränderung und „Modernisierung“ der Wasserleitung, der Badezimmer und des Kanalisationssystems des Winterpalastes in St. Petersburg im 18. und 19. Jahrhundert wie in dem Beitrag von IgorV. Zimin, sagt zwar viel über die Einstellung der einzelnen Zaren zu hygienischen ‚Neuerungen‘, aber ohne eine weitere Kontextualisierung oder eine reflektierende Ebene zunächst noch relativ wenig über die Hygiene als Leitwissenschaft, das hygienische Verständnis der Zeit und hygienische Verhaltenspraktiken.

Eine Reihe der Beiträge – vor allem die personenbezogenen – folgt dabei einem nahezu ‚hagiographischen‘ Narrativ. Dank biographischen Zugängen lassen sich oftmals komplexe Mensch-Materie-Wissens-Zirkel leichter aufgreifen, größere wissenshistorische Zusammenhänge besser erläutern und der transregionale Wissensfluss und seine Auswirkung auf die Lokalität greifbar machen. Dieses Potenzial der biographischen Erzählung wurde aber in den wenigsten Beiträgen ausgeschöpft. Meist steht der Vermittler und ‚Modernisator‘ im Fokus. Beispiele hierfür bieten der Beitrag Marta Fischers über den Hygieniker Victor Aleksandrovič Levašëv, der Beitrag von Sergej M. Kuznecov über den Hygieniker Aleksej Petrovič Dobroslavin, Gisela Bloecks Studie über den um Hygienepopularisierung verdienten Pharmazeuten Georg Dragendorff, Oxana Kosenkos Beitrag über den Hygieniker und Förderer Lev Tarasevič oder aber der Beitrag von Volodymyr O. Abašnik über die Lebenswege der Char’kover Pioniere der Hygiene, bei denen sich die deutsche Einwirkung vor allem in Aufenthalten der Hygieniker an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen oder aber in deren Beteiligung an deutschsprachigen hygienischen Zeitschriften zeigt.

Eine andere Form dieser zum Hagiographischen tendierenden Narrative bieten die Beiträge, die in einem aufzählenden Modus die Lebenswege, Arbeiten und Schüler-Lehrer-Beziehungen beschreiben und so die deutsch-russischen Austauschkontakte dokumentieren: Wer war wer in den russischen hygienischen Kreisen der ersten Hygieneschulen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in welcher Beziehung standen die einzelnen Hygieniker zueinander – dies erfahren wir aus dem Beitrag von Konstantin K. Vasylev, Jurij K. Vasylev und Andrej V. Melničenko. Von Regine und Gerd Pfrepper bekommen wir dagegen einen sehr detaillierten Überblick unter anderem über die Aufenthalte einzelner russischer Wissenschaftler am Koch’schen Berliner Hygiene-Institut und über die Teilnahme russischer Wissenschaftler an den Veröffentlichungen der deutschsprachigen Zeitschrift für Hygiene.

Die meisten der Beiträge haben einen stark deskriptiven Charakter. Eine analytische Ebene wie auch eine gezielte Fragestellung oder eine über ihre Deskriptivität hinausgehende These fehlen oftmals. Für die Beschreibung der Neuausrichtung der Hygiene als ein neues Fach mögen diese definitorischen Moment- und Konstituierungsaufnahmen ausreichend sein, für ein vertieftes Verständnis der Potenziale der Hygiene im Russischen Reich mit ihrer Differenzierungs- und Transformationsmacht sowie für eine Annäherung an die Prozesse der Wissenschaftsfestlegung, -entwicklung, -etablierung und des zirkulierenden Austauschs greifen sie viel zu kurz. Die in den Einleitungen der jeweiligen Beiträge anvisierten Prozesse des Wissensaustausches bleiben somit lediglich auf der Oberfläche ihrer Benennung.

Dieser biographisch-deskriptive Zugang findet nur an wenigen Stellen eine ergänzende Dimension. Eine solche lässt sich den dem deutschen Hygieniker und Geomediziner Heinrich Zeiss gewidmeten Ausführungen von Wolfgang U. Eckart entnehmen. Eckarts Beschreibung der ausgeprägten Reiseaktivitäten von Zeiss (1888–1949) – vor allem seiner Reiseexpeditionen in die deutschen Wolgasiedlungsgebiete nach Saratov (1926) und seiner Reisen zur Bekämpfung der Kamel-Tryponosomiasis unter anderem nach Ural’sk in die Gebiete der Kirgisen und der Uralkosaken (1926–27) – zielt darauf ab, die Ansätze der rassenpathologischen Geomedizin, wie sie in Anlehnung an die geopolitischen Theorien im Entstehen war, zu verdeutlichen und sie im Kontext der deutschen Kultur- und Wirtschaftspropaganda zu analysieren. Die Berichte von Zeiss zeugen von einer teils bewussten und dem rassenanthropologischen Gedankengut entstammenden, teils unbewusst projizierten, dennoch programmatisch werdenden Verschmelzung kultureller, ethnographischer, politischer und medizinischer Kategorien. Diese wurden zur Beschreibung der „weltgeschichtlichen Bedeutung“ (Zeiss 1927; S. 254) der von ihm propagierten und im Sinne der deutschen Interessen einzurichtenden Geomedizin verwendet, die vor einer aus den Osten drohenden Degenerationsgefahr warnte; einer Degenerationsgefahr, die, sollte die Sowjetunion ihre Entwicklungschancen nutzen und diese Gefahr für sich produktiv machen können, eine große Herausforderung für Deutschland darstellen und daher rechtzeitig erkannt werden müsse (S. 255–256).

So wie der Beitrag von Eckart mit seinem personenbezogenen Zugang bessere Einblicke in die hygienisch basierte Geomedizin und die russische Gesundheitspolitik gibt, so lassen sich in dem Sammelband noch einige weitere Studien finden, die uns neben dem deskriptiven auch einen tiefen analytischen Blick auf die russische Hygiene und auf russisch-deutsche Transferprozesse erlauben. Ein solcher Beitrag stammt von Björn M. Felder. Felder führt uns mit seiner Studie in die Diskurse zur Ausrichtung der russischen Hygiene ein, indem er die forschungsgestützte These hinterfragt, der russische Gesundheits- und Hygienediskurs seien vorwiegend von sozialmedizinischen Paradigmen geprägt gewesen und durch diese Prägung für rassistische Kategorisierungen und die Biologisierung des Sozialen resistent gewesen. Anhand biomedizinischer Diskurse (Tarnovskij’s eugenischer Modernismus, deutschbaltische Ärzte, Gamalejas Gesellschaftshygiene) zeigt er, dass es in Russland bereits seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Parallelität medizinischer Diskurse zu verzeichnen gibt und dass die sozialhygienisch ausgerichtete Zemstvo-Medizin eine anfangs noch vereinzelte, spätestens nach 1905 immer stärker werdende Konkurrenz von jungen, modernistisch denkenden und der Degenerationslehre verpflichteten Ärzte erhielt, zumal sie in den baltischen Provinzen verstärkt auf biomedizinische und proto-eugenische Forderungen stieß. Eugenik wurde langsam als „ein neues, revolutionäres Instrument im Sinne einer ‚Gesellschaftshygiene‘“ (S. 195) entdeckt und, wenn auch nicht direkt zur Ethnisierung, so doch zur Biologisierung des Nationalen eingesetzt, und zwar bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und sogar über die Zeit ihrer offiziellen Verdammung in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hinweg.

Dass bei hygienischen Diskursen ohne die Beachtung ihrer handlungsleitenden Verhaltensweisen und praxislogischen Übersetzungen ihre Wirkungsmächtigkeit sich nur partiell erschließen und kaum in ihrer inneren Dynamik nachvollziehen lässt, zeigt Hans-Christian Petersen. Er thematisiert die Neuordnung der St. Petersburger Märkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und analysiert, wie sich die hygienischen zu kommerziellen, sozialpolitischen und polizeilichen Argumenten verhielten sowie ob ihre Umsetzung eher ihrer überzeugenden Kraft oder eher ihrer politischen Zweckbedingtheit geschuldet waren. Petersen schildert zum einen die Debatten um die Neuordnung des Heumarktes, eines der größten Lebensmittelmärkte St. Petersburg, der zugleich mit seiner „Fressmeile“ und dubioser Kundschaft als der größte Epidemieherd der Stadt betrachtet wurde. Zum anderen stellt er diese Debatten und die anschließende Umgestaltung des Heumarktes im Jahr 1886 im Kontext des allgemeinen Umgangs mit städtischen Märkten und deren Neueinordnung dar. Dabei zeigt er, dass die Intensität auch der hygienischen Bemühungen weniger mit hygienischen Ansätzen der Zeit oder mit hygienischem Anspruch auf Verbesserung der Volksgesundheit zu tun hatte, auch wenn letzteres von der städtischen Sanitärkommission gefordert war. Sie folgte eher kurzfristigen ökonomischen Kriterien (S. 292) und ließ somit den hygienische Diskurs als begleitend, aber nicht ausschlaggebend erschienen.

Eine spannende Exkursion in die Beschreibung der Eckpunkte und Felder der hygienischen Ordnung in Russland stellt ferner der Beitrag von Lutz Häfner dar, in dem die Anfänge des staatlichen Kampfes gegen die Lebensmittelverfälschung und der behördlichen sowie wissenschaftlichen Bemühungen um Lebensmittelnormierung in Russland vor allem in der Zeit von den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg beschrieben werden. Das Zarenreich stellt dabei im internationalen Vergleich weder ein Negativ- noch ein Paradebeispiel dar. Es war vielmehr einer von vielen internationalen Spielern, die sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg verstärkt der Bekämpfung der Lebensmittelfalsifikation und des damals schon als aussichtslos, dennoch alternativlos bezeichneten Kampfes um Produktqualität im Namen der Volksgesundheit verpflichteten.

Der Sammelband schießt mit zwei zusammengehörigen Beiträgen über russische hygienische Selbstpräsentationen auf den Ende des 19. Jahrhunderts als mächtigstes Popularisierungsinstrument aufkommenden Internationalen Ausstellungen. Was und wie sich Russland auf den Hygieneausstellungen in Brüssel (1876) und Dresden (1911) präsentierte, kann man den Beiträgen von Elena Roussanova und Gerhard Hexelschneider entnehmen. Roussanova beschreibt dabei den Umfang der Themen und Exponate, von denen sie einige sogar genauer avisiert. Welches Hygieneverständnis hinter solchen Präsentationstechniken stand, inwiefern die Beteiligung an den Ausstellungen als Teil eines wissenschaftlichen Wettlaufs verstanden und genutzt wurde oder aber welche Selbstinszenierung dadurch angestrebt wurde, bleibt dabei offen. Vor allem die Analyse des Letzteren wäre wünschenswert gewesen, zumal die Autorin immer wieder die Selbstdarstellung mittels der Hygiene betont, kaum aber darauf eingeht. Diesen Teil übernimmt teilweise der Beitrag von Gerhard Hexelschneider, der zwar nicht auf die hygienische, aber vorwiegend auf die künstlerische Selbstpräsentation Russlands auf der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden (1911) eingeht und zeigt, wie die künstlerische Umrahmung (Pavillon, Dekorationen usw.) dazu gedacht war, die wissenschaftlichen Leistungen zu untermauern und Russland als ein modernes Land zu präsentieren.

Insgesamt hinterlässt der Sammelband einen ambivalenten Eindruck. Das ist zum einen seiner Gattung als solcher, zum anderen dem fehlenden konzeptionellen Rahmen geschuldet. Einige wenige spannende Beiträge stehen im Kontext deskriptiver Studien, die zwar hier und da neue Materialien erkennen lassen, aber sich durch alte Herangehensweisen selbst im Wege stehen. Das Bild der Hygiene als Leitwissenschaft muss sich der Leser somit durch lose miteinander in Verbindung stehende momenthafte Einblicke oder durch chronologische, enzyklopädieartige Übersichten selbst erarbeiten. Eine erste Annäherung an die russisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen wird damit getan, mehr aber auch nicht.

Justyna A. Turkowska, Gießen

Zitierweise: Justyna A. Turkowska über: Hygiene als Leitwissenschaft. Die Neuausrichtung eines Faches im Austausch zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert. Internationale Tagung, Leipzig, 7.–8.10.2013. Hrsg. von Ortrun Riha und Marta Fischer. Aachen: Shaker, 2014. 394 S., Abb., Tab. = Relationes, 16. ISBN: 978-3-8440-3059-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Turkowska_Riha_Hygiene_als_Leitwissenschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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