Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Max Trecker

 

Lucien J. Frary / Mara Kozelsky: Russian-Ottoman Borderlands. The Eastern Question Reconsidered, Madison: University of Wisconsin Press, 2014. XII, 363 S., 1 Kte., Abb. ISBN: 978-0-299-29804-3.

Inhaltsverzeichnis:

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Die Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Osmanischen Reich und dem Zarenreich ist lang und gewann im 19. Jahrhundert aus europäischer Sicht die Konturen eines Überlebenskampfes des „Kranken Manns am Bosporus“. Ideen, wie die Zukunft des Osmanischen Reiches aussehen sollte, bewegten spätestens seit den 1820er Jahren die Gemüter von Schriftstellern und Politikern. Die Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und den europäischen Großmächten wurden bereits von den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff der „Orientalischen Frage“ subsumiert. Die Herausgeber Lucien J. Frary und Mara Kozelsky, die als Associate Professor an der Rider University und der University of South Alabama tätig sind, veröffentlichen neue Forschungsbeiträge zur „Orientalischen Frage“, die sie im Kern als einen Machtkampf des 19. und frühen 20. Jahrhundert definieren. Diesem Machtkampf, der im Vielvölkerstaat des Osmanisches Reiches eine interne Sprengkraft entfesselte, lag die Annahme der europäischen Großmächte zugrunde, in die Angelegenheiten des Reiches eingreifen zu dürfen und zu müssen. Kaum woanders ließen sich die Auswirkungen der „Orientalischen Frage“ auf die einheimische Bevölkerung so gut untersuchen wie im Grenzgebiet zwischen dem Osmanischen Reich und dem Zarenreich. Die Idee für das vorliegende Publikationsprojekt entstand während einer Tagung der Association for the Study of Eastern Christian History and Culture 2008. Die Beiträge sind überwiegend von Historikern verfasst worden.

In ihrer Einleitung geben die Herausgeber einen konzisen Forschungsüberblick; sie beschreiben das  Ungleichgewicht der ersten Forschungsarbeiten, die vor allem auf britischen und französischen Quellen beruhten, die ‚Entdeckung‘ Osmanischer Archive und die Abkehr von der klassischen Politikgeschichte. Frary und Kozelsky erheben für die versammelten Beiträge folgenden Anspruch: Es sollen vor allem die negativen Auswirkungen der „großen Politik“ und die gegenseitige Bedingtheit des makropolitischen Geschehens und des Handelns lokaler Akteure im Grenzgebiet untersucht werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt (gewaltbedingten) Migrationsströmen zwischen den Herrschaftsgebieten des Zarenreichs und denen des Osmanischen Reiches. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf dem heutigen „Erbe“ der „Orientalischen Frage“. Hieran schließt sich die von den Herausgebern aufgeworfene Frage an, inwiefern  die Auswirkungen des Auseinanderbrechens des Osmanischen Reiches auch heute noch die verschiedenen Gesellschaften prägen, die in den ehemaligen Herrschaftszonen des Zaren und des Sultans entstanden sind. Das erste Ziel wird überzeugend umgesetzt. Dies gilt nicht für die Frage nach dem Erbe der „Orientalischen Frage“.

Die Bandbreite der insgesamt zehn Beiträge, die exemplarisch für neue Forschungsansätze stehen sollen, erstreckt sich vom Freikauf von während des Griechischen Unabhängigkeitskrieges versklavten Griechen durch staatliche und nicht-staatliche russische Akteure bis zur Idee der Umwandlung des Osmanischen Reiches am Vorabend des Ersten Weltkrieges in eine Föderation im Stile Österreich-Ungarns. Während die Beiträge sprachlich anschaulich geschrieben sind, ist das verwendete Kartenmaterial zum Teil fehlerhaft. Auf der am Anfang des Buches präsentierten Übersichtskarte werden die Auswirkungen des Vertrages von Sèvres mit jenen des Vertrags von Lausanne vermischt. Zwei Aufsätze seien hier gesondert erwähnt, da sie jeder für sich beispielhaft für die Stärken und Schwächen des Sammelbandes stehen: Mara Kozelskys Aufsatz „The Crimean War and the Tatar Exodus“ sowie Candan Badems Beitrag „Forty Years of Black Days? The Russian Administration of Kars, Ardahan, and Batum, 1878–1918“. Candan Badem ist als Assistant Professor an der Tunceli Universität in der Türkei tätig.

Mara Kozelsky stellt zu Anfang ihres Aufsatzes fest, dass Migrationshistoriker für das 19. Jahrhundert  in erster Linie Arbeitsmigration und Urbanisierung in den Mittelpunkt gestellt hätten und gewaltgetriebene Migration dem 20. Jahrhundert zuschrieben. Eine dominante Rolle der Arbeitsmigration könne für das östliche Europa des 19. Jahrhunderts nicht gelten. Allein als Folge des Krimkrieges seien 200.000 Tataren, etwa zwei Drittel der einheimischen Bevölkerung von der Krim geflohen und hätten ihr Hab und Gut zurücklassen müssen. Das Recht zur Emigration war ihnen im Friedensvertrag von Paris 1856 zugesichert worden. Die Autorin beschäftigt sich intensiv mit den vor Ort herrschenden Bedingungen während und nach Ende der Kampfhandlungen, die dazu führten, dass Hunderttausende ihr Recht zur Emigration nutzten. Sie stellt die These auf, dass die zarischen Akteure sowohl vor Ort als auch in der Petersburger Zentrale mit Absicht die tatarische Bevölkerung schrittweise vertreiben wollten, da man ihnen Illoyalität unterstellte und Kollaboration mit dem Feind. Bereits während des Krieges waren tausende Tataren vom zarischen Militär zwangsweise ins Innere der Krim und nach Südrussland umgesiedelt worden. Ihr Land wurde, so die Autorin, häufig von russischen Grundbesitzern in ihrer Abwesenheit enteignet und an Siedler vergeben, die man nicht nur als loyaler, sondern auch als produktiver betrachtete. Der Beitrag endet mit der These, dass die Entscheidung des Staates, auf dem Höhepunkt des Krimkrieges Tataren zu deportieren, an die Stalinsche Bevölkerungspolitik während des Zweiten Weltkrieges erinnere sowie dass die Bestimmungen im Pariser Friedensvertrag über die Zulassung eines gegenseitigen Bevölkerungsaustauschs einen Schatten auf die Migrationsströme voraus würfen, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den Pariser Vorortverträgen einsetzten.

Candan Badem beschreibt in seinem Beitrag den Versuch der zarischen Verwaltung, Erfahrungen aus der Militärverwaltung im Kaukasus auf die im Gefolge des Berliner Kongresses annektierten Gebiete zu übertragen. Der Autor beschreibt im Wesentlichen eine Geschichte des Scheiterns. Obwohl die zarische Verwaltung in Infrastruktur investierte und die Verwaltung bei geringerer Steuerlast effizienter gestaltet habe, habe die einheimische Bevölkerung Vermeidungsstrategien entwickelt oder sei ganz aus der Region emigriert. Zwischen 1879 und 1882 seien vier Fünftel der muslimischen Bevölkerung ausgewandert, die Hälfte von ihnen kehrte jedoch nach wenigen Jahren zurück, da die osmanische Verwaltung in Anatolien den Migranten nicht die versprochenen Lebensbedingungen habe schaffen können. Auch wenn der Autor – anders als über die Krimtataren – nicht von einer erzwungenen Emigration spricht, so stellt er doch die These auf, dass der zarischen Verwaltung die Auswanderung von Muslimen nicht ungelegen kam, da sie die muslimischen Bevölkerungsschichten als potentiell illoyal betrachtet und Anstrengungen unternommen habe, um – dies stelle eine Ähnlichkeit zur Krim dar – Russen und Griechen im Südkaukasus anzusiedeln. Dieser Versuch sei aber gescheitert, da auch am Vorabend des Ersten Weltkrieges nur fünf Prozent der permanent in den Provinzen lebenden Bevölkerung russischer Abstammung gewesen seien. Den Abschluss bildet wiederum eine Beschreibung des Erbes der zarischen Verwaltung für die türkisch-russischen und türkisch-sowjetischen Beziehungen.

Insgesamt gelingt die Umsetzung des ersten der zwei von den Herausgebern in der Einleitung formulierten Ziele gut. Das Handeln lokaler Akteure wird durchaus überzeugend mit makropolitischen Entwicklungen verbunden. Ob dieser Ansatz einer „entangled history“ noch als besonders neu und innovativ bezeichnet werden kann, sei dahingestellt. Er bringt anregende Forschungsbeiträge hervor. Negativ sticht hervor, dass zu selten die deskriptive Ebene verlassen wird. Die Umsetzung des zweiten Vorhabens, der Frage nach den Auswirkungen des Zerfalls des Osmanischen Reiches auf die heutigen Gesellschaften, darf als misslungen bezeichnet werden. Die den einzelnen Beiträgen anhängenden Abschnitte zur Aktualität wirken zu konstruiert und bestehen in erster Linie aus en passant aneinandergereihten Behauptungen, die kaum diskutiert werden und die Grundlage komplett eigenständiger Forschungsvorhaben und Beiträge bilden könnten. Diese Versuche wirken unpassend, auch wenn es aus aktuellem Anlass verlockend erscheinen mag, den Massenexodus der Krimtataren in den 1850er Jahren in einen Zusammenhang mit den Deportationen der Stalinzeit oder der Gewalt gegen Krimtataren nach der Besetzung durch die Russische Föderation zu stellen. Der Epilog der Herausgeber ist fast ausschließlich dem Zweck gewidmet, eine historische Kontinuität vom 19. Jahrhundert bis in das 21. Jahrhundert zu konstruieren. Die Kriege der 1990er Jahre im ehemaligen Jugoslawien in einen kausalen Zusammenhang mit ethnischer Gewalt auf dem Balkan im 19. Jahrhundert zu stellen, erinnert jedoch an eine vulgarisierte Form der Debatte zwischen Sundhaussen und Todorova. Statt nach Spuren im Nebel zu suchen, hätte der Sammelband durch eine stärkere Fokussierung auf das Thema der Migration deutlich an Statur gewonnen, da hierin die Stärke der Mehrheit der Beiträge liegt.

Max Trecker, München

Zitierweise: Max Trecker über: Lucien J. Frary / Mara Kozelsky: Russian-Ottoman Borderlands. The Eastern Question Reconsidered, Madison: University of Wisconsin Press, 2014. XII, 363 S., 1 Kte., Abb. ISBN: 978-0-299-29804-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Trecker_Borderland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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