Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jan Tesař

 

Slava Gerovitch: Soviet Space Mythologies. Public Images, Private Memories, and the Making of a Cultural Identity. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2015. 232 S., 6 Abb. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-6363-9.

Als ein Komplex von Deutungen war der Weltraum im zwanzigsten Jahrhundert wahrscheinlich viel mehr als andere wissenschaftlichen Forschungsgegenstände mythisiert. Es gibt einen wahren Überfluss vor allem an Sci-Fi-Literatur, die populäre Imagination über den Kosmos bedient. Das Buch von Slava Gerovitch macht aber deutlich, dass die Autoren fantastischer Literatur nicht die einzigen sind, die zur Herstellung dieses kulturellen Mythos beigetragen haben. Gut informiert über die aktuelle Forschung über die Geschichte der Weltraumprogramme der Vereinigten Staaten und insbesondere der Sowjetunion, zeigt Gerovitch mithilfe einer umfangreichen Quellenanalyse, dass es verschiedene Versionen desselben Mythos, auch mit unterschiedlichen Funktionen, in verschiedenen Erinnerungsgruppen der sowjetischen Gesellschaft gab.

Die rezensierte Monographie ist ein Ergebnis langjähriger Forschungen zur Kulturgeschichte der sowjetischen Weltraumflüge. Daher ist es eng mit den aktuellen Debatten zu diesem Thema verbunden. Während der von James Andrews und Assif Siddiqi herausgegebene Sammelband Into the Cosmos (2011) grundsätzlichen Aspekten wie den kulturellen Merkmalen der sowjetischen Kosmos-Periode, dem Zusammenwirken von Propaganda und Ideologie oder der „Ikonisierung“ von Hauptfiguren wie Korolev oder Titov gewidmet ist, bietet das Buch von Gerovitch eine andere Perspektive und Fragestellung. Der Autor fokussiert nicht das ideologische Potential des Weltraum-Programms, sondern er beleuchtet die Rolle sozialer Gruppen, die direkt am Erfolg dieses Programms beteiligt waren; er erzählt ihre Geschichte und analysiert deren Regeln und Funktionen für die betroffenen Personengruppen. Es ist ein großer Vorteil des Buches, das es nicht nur eine „wahre“ Geschichte des Weltraumprogramms präsentiert, sondern mehrere konkurrierenden Erinnerungen an die Ereignisse, die sich auch mit Propaganda und offiziellen Mythen auseinandersetzen.

Vor allem verfolgt der Autor die Erinnerungen der wichtigsten seinerzeitigen Akteure, um die spezifische Narrative und Kontexte der Ereignisse zu rekonstruieren. Ziel der Monographie ist es herauszufinden, wie diese Geschichten die Identität der Gruppen, vor allem der Raketeningenieure und Kosmonauten, bestimmten. Anders gesagt konfrontiert der Autor die offizielle, von der sowjetischen Propaganda etablierte Gedächtniskultur mit dem kommunikativen Gedächtnis der Professionellen. Die Analyse macht deutlich, inwiefern das kommunikative Gedächtnis vom offiziellen Narrativ durchdrungen und umgestaltet war und umgekehrt.

Eine andere analytische Ebene repräsentiert die Weltraumforschung und das Ingenieurwesen. Sie stellt auch einen wichtigen Kontext für die Kapitel über das kommunikative Gedächtnis dar. Dieser sorgfältig erforschte Aspekt unterstützt die Geschichte der verschiedenen professionellen Gruppen. Vor allem die Beziehung zwischen Weltraumprogramm, Maschinenbau und marxistischer Ideologie ist im Buch überzeugend dargelegt. Die Rekonstruktion der damaligen Diskussion zwischen Experten über den Grad der Automatisierung der Raketen ermöglicht beispielhaft, die Komplexität und Vielfältigkeit des Diskurses, dessen Stärke und Folgen sowohl für die konkreten Entscheidungen als auch für die Entwicklung des kollektiven Gedächtnisses zu rekonstruieren. Eine überraschende Entdeckung ist, dass die hochtechnisierte Debatte über die Automatisierung auch mit alten stalinistischen ideologischen Losungen wie „Die Maschinen sind das Entscheidende(mašiny rešajut vse) oder umgekehrt „Die Kader sind das Entscheidende(kadry rešajug vse) eng verknüpft war. Damit zeigt der Autor die Zusammenhänge und der Einbettung der Debatte in den allgemeinen sowjetischen Diskurs über die Beziehung zwischen Mensch und Technik und über die Rolle der Maschinen im menschlichen Leben.

Das dritte Thema des Buches ist die Mythisierung. Im Fokus stehen die Fabrikation des offiziellen Narratives über die Weltraumära für ein breites Publikum. Der Autor beschäftigt sich vornehmlich mit der Aufnahme und Verbreitung der Mythen in verschiedenen Milieus der Sowjetunion. Spezielle Aufmerksamkeit erfahren die Strategien der Mythenherstellung in ihren unterschiedlichen Stadien. Gerovitch schreibt in diesem Zusammenhang:The cosmonauts were forced to follow the preset agenda of the space propaganda machine, just as they had to fit into the automated control system of their spacecraft.“ (S. XVII) Die Kosmonauten waren nach ihrer Rückkehr aus dem Weltraum einer strengen ‚biopolitischen‘ Kontrolle unterworfen. Sie konnten nicht nur über ihre Zeit und ihre Bewegungen nicht frei verfügt, sondern auch ihre Stimme war unter fast totaler Kontrolle.

Das zentrale Ergebnis zum Stil der Erinnerung ist, dass alle vom Autor erforschten Gruppen, egal ob Kosmonauten, Ingenieure oder ganz normale sowjetische Bürger, nicht die ‚wahre‘ Geschichte hören wollten, sondern sich eine ideale, verbesserte Geschichte ausgedacht haben. Die verschiedenen Gruppen wollten sich nicht an die realen historischen Akteure oder an die triumphalen Ereignisse mit ihren Mängeln und Ambiguitäten erinnern, sondern sie wollten eine Geschichte, „wie es eigentlich gewesen sein soll“, um ihre eigene Identität zu bestätigen und zu verstärken. Im Kontrast zur offiziellen Meistererzählung der Sowjetzeit sind in der postsowjetischen Öffentlichkeit durch die kontinuierliche Erinnerung mehrere gegensätzliche Mythen entstanden.

Obwohl die goldene Ära des Gagarin-Fluges schon lange vorbei ist, sind die Namen des ersten Kosmonauten und des Hauptingenieurs Korolev noch lange keine leeren Symbole. Ob man die dauernde Popularität der Bahnbrecher mit dem von Natalija Ivanova gebrauchten Begriff „No(w)stalgia“ erklären kann, oder ob man es eher als ein Zeichen des long dureé des kulturellen Gedächtnis betrachten soll, ist immer eine offene Frage.

Zusammengefasst ist das Buch Soviet Space Mythologies viel mehr als eine Beschreibung und Interpretation der Expertendebatten über die Substanz und Zukunft des sowjetischen Weltraumprogramms. Auf der epistemologischen Ebene wirft das Buch implizit die Frage auf, inwiefern die ‚faktische‘ Geschichte in der Lage ist, eine bedeutende Rolle im Erinnerungsprozess und in der Identitätsbildung generell zu spielen. Es ist eine wichtige Leistung, die Kraft und das Potenzial von Mythen für die Kohäsion eines jeden Kollektivs gegenüber der Geschichte so überzeugend darzustellen, wie es Gerovitch gemacht hat. Das Buch ist ein unverzichtbarer und herausragend gut geschriebener Lesestoff nicht nur für Spezialisten der Kulturgeschichte der Sowjetunion nach Stalin, sondern alles, die sich für Kollektivgedächtnis und Erinnerungspraktiken interessieren.

Jan Tesař, München

Zitierweise: Jan Tesař über: Slava Gerovitch: Soviet Space Mythologies. Public Images, Private Memories, and the Making of a Cultural Identity. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2015. 232 S., 6 Abb. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-6363-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Tesar_Gerovitch_Soviet_Space_Mythologies.html (Datum des Seitenbesuchs)

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