Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Joachim Tauber

 

Michael H. Kohrs: Die Litauische Nationale Union. Porträt einer (Staats-)Partei. Die Litauische Nationale Union (LTS) und ihre Bedeutung für das autoritäre Regime der Zwischenkriegszeit in Litauen 1924 bis 1940. Frankfurt a.M., Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2012. 374 S., Tab., Graph. ISBN: 978-3-631-62376-3.

Das zu besprechende Buch beschäftigt sich nicht nur mit einer parteigeschichtlichen Fragestellung, sondern geht über diesen Ansatz hinaus, denn die im Mittelpunkt des Interesses stehende Nationale Union (LTS), deren Mitglieder als Tautininkai (wörtlich: die Völkischen) bezeichnet wurden, bildete die organisatorische und ideologische Basis des seit 1926 in Litauen herrschenden Regimes unter dem Staatspräsidenten Antanas Smetona. Insofern behandelt die Monographie, die 2010 als Dissertation an der Freien Universität Berlin eingereicht wurde, zentrale Aspekte der litauischen Geschichte in der Zwischenkriegszeit.

Der Autor gibt zunächst einen knappen, aber informativen Überblick über die Entwicklung des litauischen Parteiwesens bis 1924, dem Jahr, in dem die LTS gegründet wurde. Im Kapitel über die außenpolitische Probleme, das ebenfalls noch der Hinleitung zum eigentlichen Thema des Buches dient, behandelt Kohrs die Auseinandersetzung um Vilnius und Memel, die die Politik Litauens in der Zwischenkriegszeit bestimmte. Die auf litauischem Schrifttum beruhende Referierung der Ereignisse ist etwas zu lang geraten, mag aber für den mit der Thematik nicht vertrauten deutschen Leser trotzdem von Interesse sein.

Mit der Schilderung der Parteigeschichte der LTS bis 1926 beginnt der eigentliche Hauptteil des Buches. Kohrs stellt das Programm dieser kleinen nationalen Partei vor, die 1924 noch von demokratischen Grundsätzen innerhalb der eigenen Strukturen und in der Politik des Landes ausging, wiewohl bereits jetzt zwischen einem Idealzustand und der litauischen Realität differenziert und ideologisch fundierte Kritik am Parlamentarismus geäußert wurde (S. 103–110). Methodologisch arbeitet Kohrs mit den gängigen politologischen Parteimodellen, in deren Spektrum er die LTS als sogenannte Rahmenpartei einordnet. Zu Recht weist er jedoch darauf hin, dass von Beginn an „Versuche [], die Partei in eine nationalistisch orientierte Massenpartei zu transformieren, [] unübersehbar“ (S. 112) waren.

Das wichtigste Ereignis, durch das die unbedeutende Partei zu einer bestimmenden Größe der litauischen Geschichte werden sollte, ist der coup d’état gegen die amtierende Regierung im Dezember 1926. Es versteht sich von selbst, dass dieser Umsturz ausführlich beschrieben wird (S. 113–137). Die zentrale Frage ist die nach der konkreten Beteiligung der Tautininkai am Putsch der jungen Offiziere. Die differenzierte Analyse von Kohrs zeigt jedenfalls, dass die später vorgebrachten Schutzbehauptungen, man sei von dem Umsturz selbst überrascht oder nur in letzter Minute informiert worden, sicherlich nicht der Realität entsprechen. Mit dem Erfolg der Offiziere war auch der Wendepunkt in der Geschichte der LTS erreicht.

Im folgenden schildert der Autor den „Weg zur Massenpartei“ bis 1933 (S. 138–182). Deutlich wird dabei der Wandel in den Parteistrukturen, der erst die Voraussetzungen für eine Volkspartei, allerdings, wie Kohrs pointiert ausführt, zunächst für eine demokratische Massenpartei (S. 179) schufen. Der Autor begründet diese überraschende Klassifizierung mit den auch nach der Machtübernahme geduldeten Konkurrenzparteien und der noch vorhandenen, durch die Parteistatuten verankerten „innerparteilichen Demokratie“, die auch eine „Kommunikation von unten nach oben“ (S. 180) ermöglicht habe.

Jedoch blieben diese demokratischen Relikte nur Episode, denn spätestens nach dem Ende des Machtkampfes zwischen Smetona und seinem Antipoden Augustinas Voldemaras befand sich die LTS „auf dem Weg zur Staatspartei“ (S. 183). Jetzt wurde sie „der absoluten Führerschaft Smetonas unterworfen und verlor weitgehend die Möglichkeit, eigenständig politische Forderungen zu formulieren“ (S. 187). In diesem Kapitel stellt Kohrs auch das Innenleben der Union vor, das in den dreißiger Jahren vor allem durch einen steigenden Mitgliedsanteil von Verwaltungsangestellten und Lehrern geprägt wurde, während Frauen deutlich unterrepräsentiert waren. Vertreter von Minderheiten konnten dagegen überhaupt nicht Mitglied der Staatspartei werden, da laut Parteistatut nur Litauer und Litauerinnen aufgenommen werden sollten. In diesem Mittelteil finden sich auch mannigfache statistische Daten, wobei das eine oder andere Detail vielleicht einer letzten Kürzung zum Opfer hätte fallen können, um die Stringenz des Erzählflusses nicht zu gefährden. Abschließend zieht der Autor das Fazit, dass aus der 1933 noch als demokratische Massenpartei zu bezeichnenden LTS nunmehr eine autoritäre Einheitspartei geworden sei (S. 250).

Als wichtiger Exkurs ist das folgende Kapitel zu betrachten, das sich der Propaganda, Ideologie und Funktion im Regime widmet (S. 254–312). Kohrs macht deutlich, wie stark ein völkischer Nationalismus (Einigkeit des Volkes) in den programmatischen Äußerungen der Partei an Boden gewann. Die anschließenden Ausführungen zum „Volksführer“ Smetona sind überzeugend und grenzen das Herrschaftssystem klar vom Personenkult sowjetischer oder nationalsozialistischer Führer ab (S. 273). Verbunden mit der völkischen Ausrichtung der LTS und des autoritären Regimes ist es sicherlich angebracht, nach dem Verhältnis zum Faschismus zu fragen (S. 274). Wenig Zweifel besteht, dass die LTS sich in einer engen ideologischen Nachbarschaft zum italienischen Faschismus sah, allerdings betonte man zugleich, dass Litauen seinen eigenen nationalen Weg zu gehen habe. Die Rassentheorie der Nationalsozialisten fand dagegen keine Akzeptanz bei der litauischen Staatsführung. Zu den überzeugendsten Passagen der Arbeit zählt die Einschätzung der ‚völkischen‘ Komponente der Partei: Differenziert und abgewogen ordnet Kohrs die Äußerungen ein: „Konzepte von einer Überlegenheit der litauischen Rasse oder einer besonderen ‚Sendung‘ der Nation spielten in der offiziellen Propaganda praktisch keine Rolle, auch wenn im Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen in Deutschland solche Ideen durchaus rezipiert und diskutiert wurden. Die Propagierung der eigenen nationalen Besonderheiten beschränkte sich im Wesentlichen auf die Betonung der historischen Leistungen.“ (S. 279–280) Allerdings bedeutete das nicht zwingend ein aufgeschlossenes Verhältnis zu den nationalen Minderheiten. Vom Staatspräsidenten bis zum letzten Parteimitglied wurde eine Loyalität zum litauischen Staat und eine Achtung der Staatsnation eingefordert, wobei vor allem die jüdische Bevölkerung als größte Minderheit im Fokus stand. Ein kurzer Überblick über die Rolle der Partei in den Krisenjahren 1938 bis 1940 beschließt den Hauptteil.

Auch die abschließenden Bemerkungen zeichnen sich durch ein wohlabgewogenes Urteil und weiterführende Überlegungen aus. In der Tat ist dem Autor beizupflichten, wenn er einer „differnziertere[n] Typologisierung jenseits der Dichotomie ‚faschistisch‘ und autoritär“ (S. 356) das Wort redet.

Zum positiven Fazit trägt ein weiterer Umstand bei: Das Buch ist durchweg in einem flüssigen Stil geschrieben, und sowohl der Gedankengang als auch die Interpretationen des Autors sind für den Leser klar nachvollziehbar; beides ist heute leider keine Selbstverständlichkeit mehr. Insgesamt gesehen handelt sich um eine sorgfältig recherchierte, solide gearbeitete und interessante Monographie zum litauischen Parteiensystem, der man eine litauischsprachige Ausgabe wünscht.

Joachim Tauber, Lüneburg

Zitierweise: Joachim Tauber über: Michael H. Kohrs: Die Litauische Nationale Union. Porträt einer (Staats-)Partei. Die Litauische Nationale Union (LTS) und ihre Bedeutung für das autoritäre Regime der Zwischenkriegszeit in Litauen 1924 bis 1940. Frankfurt a.M., Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2012. 374 S., Tab., Graph. ISBN: 978-3-631-62376-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Tauber_Kohrs_Die_Litauische_Nationale_Union.html (Datum des Seitenbesuchs)

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