Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Joachim Tauber

 

Anders Henriksson: Vassals and Citizens. The Baltic Germans in Constitutional Russia, 1905–1914. Marburg/Lahn: Verlag Herder-Institut, 2009. XIV, 228 S. = Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 21. ISBN: 978-3-87969-356-6.

„This study assesses the Baltic Germans response to the chances wrought by the 1905 revolution.“ (S. VII) Anders Henriksson stellt damit eine Periode in den Mittelpunkt seiner Arbeit, die als relativ gut erforscht gelten kann. Dabei versucht der Autor, gestützt auf einen Quellenkorpus, der erst in den beiden letzten Jahrzehnten verfügbar wurde, „a broadly gauged assessment of the Baltic German accommodation to the post-1905 environment“ (S. IX) zu entwickeln.

Nach einem historischen Rückblick auf die baltendeutsche Geschichte mit einem Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht es um die Revolution von 1905 und ihre Auswirkungen auf die deutschbaltische Minderheit. Ohne dass Henriksson es bewusst anspricht, zeigt er bereits in diesem Kapitel die grundlegende Diskrepanz in den baltendeutschen Bestrebungen auf: Zum einen stützte man die Autokratie und versuchte, sich als treue Bürger des Zarenreiches zu präsentieren, zum anderen suchte man eine baltische Autonomie in den Bereichen Bildung, Religion und politische Repräsentation unter baltendeutschen Vorzeichen durchzusetzen. Wenig überraschend, zerschlugen sich daher auch die Gespräche des moderaten baltendeutschen Flügels mit Vertretern der estnischen Nationalbewegung. Hinzu kam die Beteiligung des baltendeutschen Selbstschutzes an der Seite zarischer Einheiten zur Wiederherstellung der Ordnung in den Ostseeprovinzen. Den russischen Truppen fielen bis Sommer 1906 ca. 14.000 Menschen zum Opfer. „The 1905 revolution poisoned German interaction with the Estonians and Latvians.“ (S. 46). Dabei blieben Verletzungen auch auf der anderen Seite zurück, denn unvergessen sollten die Exzesse in der Provinz bleiben, bei denen vielen Herrenhäusern der rote Hahn aufs Dach gesetzt worden war.

Im folgenden Kapitel analysiert Henriksson die unterschiedlichen Konzepte, mit denen die baltendeutsche Elite die Ereignisse zu interpretieren suchte. Dabei entspricht deren konservative Lesart den bis heute oft kolportierten Stereotypen eines landed gentry, der im eigenen Verhalten keine Fehler entdecken konnte und die ‚Schuld‘ für 1905 bei so unterschiedlichen Kräften wie der zarischen Regierung oder dem modernen Kapitalismus suchte. „The road to recovery lay through the restoration of Baltic autonomy under the guidance of traditional elites.” (S. 53) Das Verhältnis zur einheimischen lettischen und estnischen Bevölkerung galt als völlig zerstört und irreparabel. Damit einhergehend lassen sich erste Affinitäten zum deutschen Nationalismus aufzeigen. Liberale Strömungen fanden dagegen im Bürgertum einen Rückhalt. Das Konzept der Liberalen, das Henriksson vor allem durch zeitgenössische Zitate aus Pressebeiträgen entwickelt, krankte vor allem daran, dass es nur erreichbar war mit nicht verfügbaren Bundesgenossen von außerhalb der deutschbaltischen Gesellschaft – dieses „central dilemma“ (S. 64) konnten die Liberalen nie überwinden.

Eine weitere Folge der Revolutionserfahrung waren die ersten nationalen Gruppierungen, die Henriksson unter der griffigen Überschrift „Mobilising the Volk“ vorstellt. Die Deutschen Vereine waren dabei diejenige Organisation, die die beste Infrastruktur aufwiesen, was schon allein daran deutlich wird, dass es sich bei ihnen um die zahlenmäßig größten privaten Gruppierungen in der Region handelte. Dennoch wird man dem Autor zustimmen, wenn er meint, die deutschen Vereine seien vor allem regional und lokal orientiert gewesen. Ebenfalls wenig einheitlich war die ideologische Ausrichtung; von einem einheitlichen national-völkischen Weltbild konnte keine Rede sein, auch wenn es am rechten Spektrum bereits derartige Ansätze gab.

Ein zentrales Problem der Monographie ist sicherlich die ausschließliche Fixierung auf die Volksgruppe, die dadurch zwangsläufig im luftleeren Raum agiert. Allein im Kapitel über die regionale politische Entwicklung 19061914 wird dieses Schema ansatzweise durchbrochen. Dabei gelingt es Henriksson, die tiefe Kluft zwischen den Baltendeutschen und der einheimischen Bevölkerung aufzuzeigen, die sich, wenig überraschend, vor allem in der Agrarfrage manifestierte. Die aristokratischen Vertreter der Volksgruppe erschienen immer deutlicher als Lobbyisten, die versuchten, alle in der Vergangenheit erworbenen Privilegien in die neue Zeit hinüberzuretten. In den Städten zeichnete sich zwar eine andere Orientierung ab, so dass nicht zu Unrecht von einem „well-developed civic consciousness“ (S. 126) gesprochen werden kann. Insgesamt ist dies die durchgängige grundlegende These der Arbeit, die eher liberal und ‚modern‘ erscheinenden Gedanken der bürgerlichen städtischen Bildungselite zuzuschreiben, während die konservativ antiquierte, teilweise deutsch-nationale Gesinnung den adeligen Landbesitzern zugeordnet wird.

Ein letzter Abschnitt widmet sich den baltendeutschen Duma-Abgeordneten. Im Parteiwesen spiegelten sich sowohl die bereits vorgestellten politischen Linien innerhalb der Volksgruppe als auch die gesamtrussischen Bewegungen wider. Wen könnte es überraschen, dass die Baltische Konstutionelle Partei vor allem mit den Oktobristen und den Kadetten zusammenarbeitete? In den beiden ersten Dumen hatten die Baltendeutschen allerdings praktisch keinerlei Einfluss, was mit dem relativ freizügigen Wahlrecht zusammenhing. Erst nachdem unter Stolypin in einem kalten Staats­streich das Wahlrecht zur 3. Duma geändert worden war, konnte sich die Volksgruppe Gehör verschaffen; sie stellte die Mehrheit der Angeordneten aus den baltischen Provinzen. Die Hoffnungen auf ein konstitutionelles Russland, die die Liberalen hegten, erfüllten sich nicht, und Stolypins nationalrussische Politik schmälerte die gemeinsame politische Basis mit den russischen Parteien.

Schließlich geht der Autor unter dem Titel „Between Tsar and Kaiser“ den Beziehungen der Minderheit zum Deutschen Reich und ihrem Selbstverständnis nach. Zweifellos stand die Loyalität zum zarischen Autokraten außer Frage, so dass pan­germanische Gedanken im Baltikum bis 1914 wenig Wirkungskraft entfalten konnten. Als Fazit bleibt festzuhalten: „A close examination of Baltic German politics reveal not only divisive proclivities, but also heightened collaboration across class, occupational, and gender divides. There were also important links between Baltic German participation in civil society and the mentalities associated with the Baltic Ständestaat.“ (S. 183 f)

Anders Henriksson hat eine klassische politische Organisationsgeschichte der Baltendeutschen geschrieben, die ausschließlich auf politische und intellektuelle Gruppierungen fixiert ist. Weitaus interessanter und anregender wäre eine an sozial- und beziehungsgeschichtlichen Fragestellungen orientierte Darstellung der Volksgruppe in einer Zeit rapiden Wandels gewesen. So bleibt eine durch und durch solide Forschungsarbeit, die mit ihrem trockenen Stil und dem fehlenden Spannungsbogen den Lesegenuss in überschaubaren Grenzen hält.

Joachim Tauber, Lüneburg

Zitierweise: Joachim Tauber über: Anders Henriksson: Vassals and Citizens. The Baltic Germans in Constitutional Russia, 1905–1914. Marburg/Lahn: Verlag Herder-Institut, 2009. XIV, 228 S. = Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 21. ISBN: 978-3-87969-356-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Tauber_Henriksson_Vassals_and_Citizens.html (Datum des Seitenbesuchs)

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