Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), H. 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Anastasia Surkov

 

Darius Staliūnas: Enemies for a Day. Antisemitism and Anti-Jewish Violence in Lithuania under the Tsars. Budapest: Central European University Press, 2015. XII, 284 S. = Historical Studies in Eastern Europe and Eurasia, 3. ISBN: 978-963-386-097-7.

Das Russische Reich gilt als das „Synonym für virulenten und gewaltsamen Antisemitismus“ (Wolfgang Benz). In diesem Teil der Welt lebten Ende des 19. Jahrhunderts laut Jürgen Osterhammel die Juden am gefährlichsten (Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Bonn 2010, S. 1232). Solche Verallgemeinerungen lassen durch ihre suggestive Kraft vergessen, dass das Zarenreich ein Vielvölkerreich war, in dem viele Ethnien lebten und die Gebiete des Imperiums sehr unterschiedliche ethnische Zusammensetzungen und Konfliktlinien aufwiesen. Auch innerhalb des scheinbar so homogenen Ansiedlungsrayons, indem die meisten Juden des Zarenreiches lebten, gab es erhebliche Unterschiede. Die neueste Studie Enemies for a Day. Antisemitisms and Anti-Jewish Violence in Lithuania under the Tsars des litauischen Historikers Darius Staliūnas will der Frage nach den Umständen des Zusammenlebens zwischen Christen und Juden in den drei litauischen Provinzen Vilna, Kovno und Suvalki genauer nachgehen.

Litauen als Teil des Russischen Reiches wird in der Forschung meistens als Ausnahme betrachtet, hier hat es laut zahlreichen Studien nicht so viel antijüdische Gewalt gegeben. (In erster Linie sind einige grundlegende Arbeiten von John D. Klier zu nennen: John D. Klier: Christians and Jews in the „Dialogue of Violence“ in Late Imperial Russia, in: Religious Violence between Christians and Jews. Medieval Roots, Modern Perspectives. Ed. by Anna Sapir Abulafia. Houndsmills, New York 2002, S. 157–172; John D. Klier: Imperial Russias Jewish Question, 1855–1881. Cambridge, New York 1995.) Staliūnas will entgegen dieser gefestigten Annahme die interethnischen Spannungen zwischen den achtziger Jahren und dem Ersten Weltkrieg untersuchen und nach den Ursachen für den Übergang von kleinen Konflikten zu den wenigen, aber umso heftigeren Gewaltausbrüchen fragen. Seine zentrale Frage lautet: Da soziale Polarisierungen auch vorher durchaus verbreitet waren, wieso kam es genau zu diesen Zeitpunkten zu Gewalt und wieso wurden ausgerechnet Juden zu Opfern?

Im ersten Kapitel untersucht Staliūnas sehr detailliert die einzelnen Ritualmordvorwürfe, die gegen Juden von 1801 bis 1908 erhoben wurden. Die beschriebenen Beispiele zeigen, dass Juden, die sich als Gruppe entlang von Sprache, Religion, Kleidung und Berufsstruktur vom nichtjüdischen Umfeld unterschieden, vor allem zu den Feiertagen in den Blick der christlichen, meistens aus den Dörfern kommenden Bevölkerung gerieten. Die Ritualmordvorwürfe waren der wichtigste Ausdruck des Aberglaubens, der traditionell in der christlichen Bevölkerung verbreitet war; diese führten aber nicht zwangsläufig zu Gewaltausbrüchen.

Im zweiten Kapitel umreißt der Autor die allgemeinen Linien des Antisemitismus in Litauen. Wie die Verbreitung der Ritualmordvorwürfe zeigt, war die religiöse Judophobie noch stark in der litauischen Gesellschaft verwurzelt. Zwar gab es keine organisierte politische antisemitische Bewegung, aber die Bilder von Juden als Schwindler und Fremde waren durchaus verbreitet. Der Autor führt weiter aus, dass der litauische Nationalismus nicht Juden, sondern andere als Feinde hatte. Juden seien als potenzielle Partner gegen Polen und Russen angesehen worden, und diese Konstellation minimierte, so der Autor, die antisemitische Propaganda in der Presse. Als eine latente Form aber blieb das negative Bild eines Juden, wie die zahlreichen Ritualmordvorwürfe zeigen, verbreitet.

Im dritten Kapitel geht es um die Pogromwelle der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Staliūnas zeichnet ein komplexes Konglomerat an Faktoren auf, das die ethnischen Spannungen zwischen Christen und Juden beeinflusste. Die Ermordung des Zaren 1881 ließ ein politisches Vakuum entstehen und eröffnete für die Gewalt gegenüber Juden neue Räume. Dabei betont Staliūnas, dass die Zielsetzung dieser kurzlebigen Gewaltausschreitungen nicht die Tötung der Juden gewesen sei, sondern dem Zweck diente, den Juden „ihren Platz zu weisen“.

Im vierten Kapitel werden einige Vorfälle antijüdischer Gewalt von Juni bis Juli 1900 beschrieben. Im Vergleich zu 1881 oder 1905 gab es um die Jahrhundertwende keine politische oder ökonomische Krise. Sehr detailliert zeigt der Autor, wie sich die kleinen Konflikte von Tag zu Tag steigerten. Es tauchten Gerüchte auf, dass für geschlagene oder getötete Juden Belohnungen ausgezahlt werden würden. Die Gewaltwelle führte vor allem zur Zerstörung von jüdischem Eigentum. Es handelte sich in vielen Fällen um symbolische Akte der Demütigung mit dem starken Motiv der „Wiederherstellung der ökonomischen Gerechtigkeit“. Hier lautet die These, dass die beschrieben Vorfälle auf den Platz der Juden in der sozialen Hierarchie der lokalen Gesellschaft verwiesen.

Das fünfte Kapitel handelt von der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Autor führt aus, dass es im gesamten Zarenreich während der Revolution von 1905 um die 600 bis 700 Pogrome gegeben habe, dagegen in den untersuchten litauischen Provinzen insgesamt lediglich zehn. Nach dem Pogrom von Kišinev wurde die jüdischen Selbstwehren auch in Litauen zu einem neuen wichtigen Akteur. Als Erklärung führt Staliūnas auch hier aus, dass der litauische Nationalismus in erster Linie antiimperiale und antirussische Züge und keinen antisemitischen Charakter besaß.

Im letzten Kapitel vergleicht Staliūnas die antijüdische Gewalt in Litauen mit der Lage in den weißrussischen Provinzen des Zarenreiches und in der ostgalizischen Provinz des Habsburgerreiches. Besonders ausführlich und fruchtbar erweist sich der Vergleich Litauens mit Weißrussland. Beide Regionen des Zarenreiches gehörten zum Ansiedlungsrayon und entwickelten sich bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Bezug auf die antijüdische Gewalt ähnlich. Erst seit 1903 mit der Pogrommwelle nahm die Entwicklung in Weißrussland eine andere Richtung ein. Als Erklärung dafür führt der Autor einige Gründe im Kontrast zum litauischen Fall auf: Zum einen war die Existenz einer großen Gruppe Anarchisten, von denen die meisten Juden waren, von besonderer Bedeutung für die antisemitischen Stimmungen und die Vorwürfe gegenüber Juden im weißrussischen Fall („revolutionary footprint“). Zweitens sei die günstige geographische Lage der weißrussischen Provinzen für die Ausbreitung von Pogromen entscheidend gewesen. Drittens war die rasche Modernisierung und Industrialisierung der weißrussischen Regionen für zahlreiche Konflikte verantwortlich, die sich um Arbeitsplätze in den Industriegebieten drehten. Zwar waren beide Regionen ethnisch und religiös sehr heterogen, in Litauen war der Katholizismus und in Weißrussland der orthodoxe Glauben jeweils dominant. Daraus schließt Staliūnas im letzten Punkt des Vergleichs, dass die Verbreitung des orthodoxen Glaubens in Weißrussland vor allem nach dem Oktobermanifest 1905 patriotische Gefühle und Identifizierung mit dem Russischen Imperium bedingt habe. Eine ähnliche patriotische Stimmung, die die antijüdische Gewalt beeinflusste, habe es in Litauen nicht gegeben.

Durch den Vergleich wird für die drei litauische Provinzen nun deutlich, dass die wenigen Pogrome vor allem durch religiöse Judophobie gespeist wurden und eine symbolische Ebene besaßen, die ökonomische Faktoren dagegen werden von Staliūnas als eher zweitrangig eingestuft. Die geringe Ausbreitung der antijüdische Gewalt habe ihre Begründung in der antirussischen und antipolnische Grundstimmungen, die eine Allianz mit Juden ermöglichten und den wichtigsten Unterschied zu den anderen Teilen des Ansiedlungsrayons (mit Ausnahme der polnischen Provinzen des Zarenreiches) darstellt.

Die neue Studie von Darius Staliūnas unterscheidet sich auf eine sehr positive Art und Weise von anderen Forschungsarbeiten zu Pogromen. (Eine gute Ergänzung bietet noch folgende Arbeit: Klaus Richter: Antisemitismus in Litauen. Christen, Juden und die „Emanzipation“ der Bauern (1889–1914). Berlin 2013.) Es verliert sich nicht in Details und präsentiert prägnante, durch eine breite Quellenbasis abgesicherte Thesen. Was häufig fehlt, ist aber der Bezug und die Einbettung der litauischen Provinzen in den Gesamtkontext. Trotz des Vergleichs gelingt Staliūnas nicht der Bezug zu dem größeren staatlichen Zusammenhang. Zwar muss man als Leser letztendlich selbst die Übertragungs- und Ergänzungsarbeit auf den größeren imperialen-zaristischen Kontext leisten, trotzdem ist es unter dem Strich eine extrem gelungene Forschungsarbeit.

Anastasia Surkov, Berlin

Zitierweise: Anastasia Surkov über: Darius Staliūnas: Enemies for a Day. Antisemitism and Anti-Jewish Violence in Lithuania under the Tsars. Budapest: Central European University Press, 2015. XII, 284 S. = Historical Studies in Eastern Europe and Eurasia, 3. ISBN: 978-963-386-097-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Surkov_Staliunas_Enemies_for_a_Day.html (Datum des Seitenbesuchs)

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