Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Anastasia Surkov

 

Michal Rejman / Boguslav Litera / Karel Svoboda / Daniėl Kolenovskaja: Roždenie deržavy. Istorija Sovetskogo Sojuza s 1917 po 1945 god. Moskva: Rosspėn, 2015. 839 S. = Istorija Stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1934-7.

Der Versuch die Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis 1945 als die „Geburt einer Weltmacht“ zu schreiben, ist vor allem dann ungewöhnlich, wenn es sich nicht um ein aktuelles Buchprojekt aus Putins Russland handelt. Das Buch mit der Hauptthese, den Status einer Weltmacht habe die Sowjetunion durch den Sieg über Hitlerdeutschland erlangt, stammte aus der Feder eines vierköpfigen tschechischen Autorenkollektivs. Im tschechischen Original wurde es 2013 veröffentlicht und liegt nun in der russischen Übersetzung vor. Erschienen ist die Übersetzung in der renommierten Reihe Istorija stalinizma (Geschichte des Stalinismus) des Verlages Rosspėn.

Das Autorenkollektiv stand unter der Leitung des Politologen und Historikers Michal Reiman. Der 1930 in der Sowjetunion geborene Experte für Stalinismus hat viele Jahre an der Freien Universität Berlin unterrichtet. Drei weiteren Autoren waren am Buch beteiligt, Bohuslav Litera, Karel Svoboda und Daniela Kolenovska; leider ohne dass kenntlich gemacht wurde, welche Kapitel von wem verfasst wurden.

Wie wurde nun aus einem „rückständigen“ Land eine Weltmacht? Diese Frage versuchen die Autoren chronologisch und mit dem erklärten Schwerpunkt auf der Politikgeschichte vom Zerfall des Zarenreiches bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zu beantworten. Die Reduktion der Erzählung ausschließlich auf politische Aspekte sei notwendig, so die Autoren, weil die Politik eine wichtigste Rolle bei der Entstehung des neuen Staates gespielt habe. Außerdem verzichten die Autoren in ihrer Darstellung auf die klassische Unterscheidung zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution 1917. Ohne einen erkennbaren Gewinn gehen die Autoren davon aus, dass es sich 1917 nicht um zwei getrennte Revolutionen, sondern um eine Vermischung einer bürgerlichen und plebejischen Phase gehandelt habe.

Die Geschichte beginnt mit einem knappen Abriss zum vorrevolutionären Russland. In großen Zügen werden die Großen Reformen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die Reformen von Witte, die Revolution von 1905 und der Anfang des Ersten Weltkrieges geschildert. Das Hauptaugenmerk liegt bei dieser Darstellung darauf, immer wieder zu betonen, wie unterentwickelt und schwach, sowohl sozial als auch ökonomisch, das Zarenreich gewesen sei. Die These ist dabei, Russland als Großmacht habe Reformen und Modernisierung nur gestartet, weil die Rolle als Großmacht sonst nicht aufrechtzuerhalten gewesen wäre. Diese ambivalente Haltung, auf einer Seite das Festhalten an archaischen Strukturen und auf der anderen Seite die schnellen Schritte hin zu einer Modernisierung, haben, so die Autoren, das Land geschwächt und letztendlich zur Niederlage im Ersten Weltkrieg geführt.

Das nächste Kapitel behandelt die revolutionären Umbrüche des Jahres 1917. In äußerst konventioneller Art werden hier die Ereignisse nacheinander erzählt. Die Hauptverantwortung für den Untergang des Zarenreiches tragen, so die Darstellung, die herrschenden politischen Gruppierungen der damaligen Zeit, die an den Herausforderungen des Ersten Weltkriegs scheiterten. Die Bolševiki dagegen lösten die dringendsten Probleme, gingen dabei aber häufig mit Gewalt vor und waren, das betonen die Autoren besonders, keine „primitiven Gestalten“. Die Bolševiki haben es geschafft, sich an der Macht zu halten und deswegen blieb die Oktoberrevolution nicht nur eine Episode in einer unruhigen Umbruchszeit.

Während des Bürgerkrieges, der im dritten Kapitel behandelt wird, gelangte also eine neue politische Gruppierung an die Macht. Die neue Leitkultur wurde „plebejisch“. Die neue Elite habe mit dem Aufbau eines neuen Staates begonnen, dessen Konturen noch absolut unklar waren. Wie diese neuen Strukturen entworfen wurden und welche Formen sie annahmen, erläutern die Autoren im vierten Kapitel. Sowohl die wirtschaftlichen Probleme, die mit den Methoden des „Kriegskommunismus“ angegangen wurden, als auch die Frage nach der Rolle der Partei, wie schließlich nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um die Vereinigung der Republiken in einer sozialistischen Union mussten von der bolschewistischen Führung in dieser Zeit gelöst werden.

Dabei schwankte das Land in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre laut der Darstellung stark zwischen Stabilisierung und Krise; darauf gehen die Autoren im fünften Kapitel ein. Vor der Revolution habe das Vermögen als Organisationsprinzip der zaristischen Gesellschaft gedient, nach 1917 bestimmte die kommunistische Bürokratie die innere hierarchische Struktur des Staates und der Gesellschaft. In dem „Einparteienstaat“ waren die politischen und die gesellschaftlichen Institutionen deckungsgleich. Vor allem durch den Tod Lenins 1924 waren diese politisch und wirtschaftlich entscheidenden Jahre von inneren Machtkämpfen bestimmt. Leider wird der innerparteiliche Kampf nur unzureichend dargestellt, so dass die schleichende Machtübernahme Stalins 1929 und mit ihm der Sieg einer nicht weiter definierten „plebejischen“ politischen Kultur (S. 509) lediglich konstatiert werden.

Im sechsten Kapitel werden vor allem der erste Fünfjahresplan (1929–1933) und die Kollektivierung der Landwirtschaft behandelt. Als einzige Erklärung für die schnelle und gewaltsame Industrialisierung wird von den Autoren der vermeintliche ökonomische und technische Fortschritt in der westlichen Welt und, damit verbunden, der innere Druck beschrieben (S. 515), ohne dass diese Aussagen mit Belegen oder Fußnoten untermauert würden. Die administrative Kommandowirtschaft habe nach ihrer inneren Logik häufig präventiv gegen die vermeintlichen Feinde gewirkt und so beinahe „natürlich“ ein totalitäres System geschaffen. Der „Große Terror“ wird im siebten Kapitel vor allem als Mittel des gesellschaftlichen Auf- und Umbaus dargestellt. Betroffen seien vom Terror in erster Linie die einfachen Bewohner der Städte und Dörfer und nicht die sowjetische Elite gewesen. Als Erklärung dient den Autoren hier lediglich ein kleiner Hinweis auf ein „Vereinheitlichungsdruck“ (S. 678); andere Erklärungsversuche für das komplexe und vielschichtige Gewaltphänomen der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre werden nicht unternommen.

Im letzten inhaltlichen Kapitel steht der Zweite Weltkrieg mit deutlichem Schwerpunkt auf den Verhandlungen über die Nachkriegsordnung zwischen den Alliierten im Mittelpunkt der Betrachtung. Besonders wichtig ist es den Autoren, wie bereits erwähnt, zu betonen, dass die Sowjetunion vor allem durch den Zweiten Weltkrieg zu einer Weltmacht aufgestiegen sei (S. 803), auch wenn dem Land eigentlich die wichtigsten Merkmale einer Weltmacht wie wirtschaftliche Stärke sowie technologisches und kulturelles Potenzial gefehlt hätten. So bleibt der Leser nach der Lektüre absolut ratlos zurück, worin denn diese „Geburt einer Weltmacht“ nun bestand, denn alles, was in dem Buch beschrieben wird, und all die zahlreichen krisenhaften, rückständigen und gewaltzentrierten Merkmale des sowjetischen System widersprechen der Kategorisierung als Weltmacht. Eine Erklärung für diese doch eher geheimnisvoll anmutende „Geburt“ bleibt das Buch schuldig.

Es handelt sich nun um ein Handbuch, das im Großen und Ganzen die grundlegenden Etappen der sowjetischen Geschichte bis 1945 nachzuzeichnen vermag. Ganz problematisch wird das Buch an den Stellen, wo die Autoren sich an Bewertungen und Einordnungen versuchen. An zahlreichen Stellen können den Autoren ganz einfach logische Zirkelschlüsse nachgewiesen werden. So hätte das Buch ohne diesen bemühten argumentativen „Überbau“ doch als eine gute Einführung in die sowjetische Geschichte dienen können.

Anastasia Surkov, Berlin

Zitierweise: Anastasia Surkov über: Michal Rejman / Boguslav Litera / Karel Svoboda / Daniėl Kolenovskaja: Roždenie deržavy. Istorija Sovetskogo Sojuza s 1917 po 1945 god. Moskva: Rosspėn, 2015. 839 S. = Istorija Stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1934-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Surkov_Rejman_Rozdenie_derzavy.html (Datum des Seitenbesuchs)

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