Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Arnold Suppan

 

Stefanie Mayer: Totes Unrecht? Die Beneš-Dekrete – eine geschichtspolitische Debatte in Österreich. Frankfurt a.M., Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2009. 159 S. = Politische Kulturforschung, 2. ISBN: 978-3-631-58270-1.

Die „Beneš-Dekrete“, korrekt: die Dekrete des Präsidenten der Republik, sind tschechoslowakische Rechtsnormen, die in einer Situation des kriegsbedingten Verfassungsnotstandes und in Ermangelung einer gesetzgebenden Körperschaft auf Vorschlag der tschechoslowakischen Exilregierung in London erlassen wurden. Diese Situation galt für die während des Zweiten Weltkrieges von London aus erlassenen ersten 45 Dekrete. Nach der Rückkehr des Präsidenten Edvard Beneš in die Tschechoslowakei Anfang April 1945 wurden weitere 98 Präsidentendekrete auf Vorlage der „Kaschauer Regierung“ unter Führung des linken Sozialdemokraten Zdeněk Fierlinger erlassen. So unterzeichnete Beneš bis zum 28. Oktober 1945 weitere 98 Verfassungsdekrete und Dekrete des Präsidenten der Republik als Rechtsnormen mit provisorischer Gesetzeskraft, die nach Bestätigung durch das tschechoslowakische Parlament am 28. März 1946 ihre Geltung behielten. Bereits im Jahre 1995 gab das Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik gemeinsam mit dem Staatlichen Zentralarchiv in Prag und in Zusammenarbeit mit der Kanzlei des Präsidenten der Republik eine zweibändige tschechische Edition aller „Dekrete des Präsidenten der Republik 1940–1945“ heraus; im Jahre 2003 unterzog sich ein kleines Team des Prager Instituts für Zeitgeschichte unter Leitung von Karel Jech der Mühe einer zweisprachigen – tschechischen und deutschen – Edition von 13 die Deutschen und Magyaren besonders betreffenden Präsidenten-Dekreten (Němci a Maďaři v dekretech prezidenta republiky. Studie a dokumenty 1940–1945. Die Deutschen und Magyaren in den Dekreten des Präsidenten der Republik. Studien und Dokumente 1940–1945. Brno 2003). Leider ist der Autorin diese zentrale Edition nicht bekannt.

Jech druckte nicht einfach die Rechtstexte und ihre deutsche Übersetzung ab, sondern analysierte auch die rechtspolitisch komplizierte Entstehung der einzelnen Dekrete:

Mit Verabschiedung eines Verfassungsgesetzes billigte die Provisorische Nationalversammlung alle Verfassungsdekrete und Dekrete des Präsidenten der Republik und erklärte sie zum Gesetz. Schließlich beschloss die Nationalversammlung am 8. Mai 1946 ein Gesetz über die Rechtmäßigkeit von Handlungen, die mit dem Kampf um die Wiedererlangung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zusammenhingen – in der späteren Diskussion fälschlich als Amnestiegesetz bezeichnet.

Weder die im Jahre 1998 einsetzenden Diskussionen in den österreichischen Landtagen und im österreichischen Nationalrat noch ihre Erörterung in den österreichischen Medien ließen profunde Kenntnisse dieser Rechtslage erkennen. Auch die vorliegende Diplomarbeit von Stefanie Mayer nimmt eine dreifache Einschränkung vor:

  1. 1)eine Reduzierung auf den Mediendiskurs in Österreich mit „Fokus auf Geschichtspolitik“; 

  2. 2)eine Reduzierung auf die Berichterstattung und die Kommentare in der Wiener Tageszeitung Der Standard; 

  3. 3)eine Reduzierung dieses Mediendiskurses auf die Jahre 2000 bis 2002 (die Periode der Regierung Schüssel I). 

Wenn auch eine Reduzierung einer politikwissenschaftlichen Arbeit auf einen Mediendiskurs statthaft ist, so wären zumindest einige Vergleichsmedien – etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung oder die Süddeutsche Zeitung – heranzuziehen gewesen. Außerdem hätte man den Zeitraum auf 1998 bis 2004 ausdehnen müssen, da in Österreich die intensiven Diskussionen über die „Beneš-Dekrete“ eben mit dem Beitrittsgesuch der Tschechischen Republik an die Europäische Union 1998 einsetzten und mit dem EU-Beitritt Tschechiens und der Slowakei am 1. Mai 2004 ein vorläufiges Ende fanden. (Vgl. Arnold Suppan: Hitler – Beneš – Tito. Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa. 2. Aufl. Wien 2014, Teil 2, S. 1593–1607).

Immerhin identifizierte Mayer für den Zeitraum vom 4. Februar 2000 bis zum 23. November 2002 359 Standard-Artikel. Zwar sprach das Regierungsprogramm der ÖVP-FPÖ-Regierung „sachgerechte Lösungen“ für NS-Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Vertriebene an, das Wiener Außenministerium stellte aber klar, dass die Frage der „Beneš-Dekrete“ ohne Junktimierung mit der EU-Erweiterung behandelt werde. Erst im Mai 2000 stellte der oberösterreichische FPÖ-Obmann ein solches Junktim mit einem allfälligen EU-Beitritt Tschechiens her; FPÖ-Obmann Jörg Haider erweiterte dieses Junktim auch auf die „Beschlüsse von Jajce“ und den EU-Beitritt Sloweniens. Spätestens dabei – tatsächlich aber schon ein Jahrzehnt vorher (!) – zeigten sich die mangelnden Geschichtskenntnisse Haiders, denn der entscheidende AVNOJ-Beschluss für die Jugoslawien-Deutschen wurde am 21. November 1944 in Belgrad gefasst. Standard-Chefredakteur Gerfried Sperl kritisierte die in der Wiener Kronen-Zeitung kolportierten Vorurteile „gegen die anmaßenden Tschechen und die fordernden Juden“. Andererseits bemängelt Mayer zurecht, dass auch der Standard den auf der Basis von österreichisch-tschechisch-slowakisch-ungarischen Historikerdiskussionen veröffentlichten, von Richard G. Plaschka, Horst Haselsteiner, Arnold Suppan und Anna M. Drabek herausgegeben und 1997 in Wien erschienenen Forschungsband „Nationale Frage und Vertreibung in der Tschechoslowakei und Ungarn 1938–1948“ überhaupt nicht berücksichtigte.

Im Jahre 2001 begann besonders die FPÖ die Themen „Beneš-Dekrete“ und AKW Temelín zu verknüpfen. Die aus Böhmen gebürtige Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi – ein Ahnherr war der letzte k.k. Statthalter von Böhmen – verwies auf die sachliche Arbeit von tschechischen, deutschen und österreichischen Historikern, die den Kontext von „Okkupation“ und „Vertreibung“ deutlich herausgearbeitet hätten. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel wiederum kreierte den Begriff vom „toten Unrecht“ und bemühte sich um eine „Versöhnungserklärung“. Immerhin stellte der Salzburger Landeshauptmann Franz Schausberger (ÖVP) klar, dass nicht Österreich sondern die EU Bedingungen an die Beitrittsbewerber zu formulieren habe. Im Jahre 2002 strebten die Debatten in Österreich und Tschechien einem neuen Höhepunkt zu, als die FPÖ ein Volksbegehren gegen Temelín lancierte und 915.220 Unterschriften einreichte. Ein Interview des tschechischen Ministerpräsidenten Miloš Zeman für das Wiener Magazin Profil warf geradezu eine Brandfackel in die Arena, als er den Sudetendeutschen „Landesverrat“ vorwarf, auf den die Todesstrafe gestanden wäre; außerdem hielt er Österreich vor, nicht das erste Opfer Hitler-Deutschlands, sondern der erste Verbündete gewesen zu sein. – Auch die Geschichtskenntnisse des späteren tschechischen Präsidenten ließen eben zu wünschen übrig. Noch unkritischer wurden allfällige Restitutions- und Entschädigungsforderungen abgehandelt. Rechtsfälle, die auch nach dem Wortlaut der „Beneš-Dekrete“ 1945 nicht zu einer Enteignung hätten führen dürfen, etwa gegen von den Nationalsozialisten enteignete jüdische (Waldes, Bloch-Bauer) und aristokratische (Schwarzenberg, Des Fours-Walderode) Besitzer, wurden mit sudetendeutschen Rechtsfällen vermischt.

Auch die EU-Gremien agierten keineswegs so, dass man jeweils klare Trennungen zwischen Geschichte und Politik erkennen konnte. Das galt sogar für ein Gutachten der drei Völkerrechtler Jochen Frowein, Ulf Bernitz und Christopher Kingsland, die in ihren „Schlussfolgerungen“ ausführten, dass die umstrittenen Rechtsmaterien der „Beneš-Dekrete“ (Enteignung, Verlust der Staatsbürgerschaft, Restitution, Amnestie) nicht im Widerspruch zu EU-Recht stünden, da dieses nicht rückwirkend gelte. Kritik wurde allerdings am sogenannten „Amnestiegesetz“ aus dem Jahre 1946 geäußert, das jedoch ein Straffreistellungsgesetz war und in den Rahmen vergleichbarer Gesetzesnormen in Frankreich, Italien und Österreich gehörte. Der Standard zitierte in diesem Zusammenhang den englischen Originaltext des Gutachtens: „[…] as we find this law repugnant to human rights and all fundamental legal principles, we are of the opinion that the Czech Republic should formally recognize this“. Letzten Endes votierte das Europäische Parlament am 21. November 2002 mit überwältigender Mehrheit für den Beitritt Tschechiens. Die vielfältigen Diskussionen in Österreich im Jahre 2002 resümierend, stellt Stefanie Mayer fest, dass auch der Standard weder Historiker noch Völkerrechtler zu Wort kommen ließ, wenn sich auch einzelne Redakteure und Korrespondenten um objektive Information bemüht hatten. Mayer stützt sich in ihrer Bewertung immerhin auch auf die profunden juristischen Analysen von Helmut Slapnicka. Insgesamt ist Mayers Resümee zutreffend, dass auch in der Berichterstattung im Standard neuere wissenschaftliche Erkenntnisse „weder in der politischen Debatte noch in der redaktionellen Aufbereitung von Hintergrundinformationen eine größere Rolle spielten“.

Die ganze Oberflächlichkeit der Debatte über die „Beneš-Dekrete“ in Österreichs Politik und Medien wurde allerdings erst im Jahre 2004 bloßgestellt. Als der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder nach seinem Besuch in Warschau im August 2004 erklärte, dass sich seine ausdrückliche Ablehnung von Entschädigungsklagen der Heimatvertriebenen nicht nur auf Polen, sondern auch auf Tschechien beziehe, stützte er sich auf den „Überleitungsvertrag“ zwischen den Westalliierten und der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 1954, der Einwendungen gegen Maßnahmen gegen das deutsche Auslandsvermögen oder sonstige beschlagnahmte Vermögen ausschloss. Danach sah sich auch Bundeskanzler Schüssel veranlasst, auf Artikel 24 des österreichischen Staatsvertrag von 1955 hinzuweisen, in dem Österreich ausdrücklich „auf alle Ansprüche irgendwelcher Art gegen die Alliierten und Assoziierten Mächte“ verzichtete, „soweit sich solche Ansprüche unmittelbar aus dem Krieg in Europa nach dem 1. September 1939 oder aus Maßnahmen, die infolge des Kriegszustandes in Europa nach diesem Datum ergriffen wurden, ergeben, gleichgültig, ob sich die Alliierte oder Assoziierte Macht zu jenem Zeitpunkt mit Deutschland im Krieg befand oder nicht“. – Das bedeutete im Klartext, dass seit 1954 bzw. 1955 weder Deutschland noch Österreich Entschädigungsforderungen, die aus den „Beneš-Dekreten“ abgeleitet würden, erheben oder unterstützen durften. Eine frühere Klarstellung der deutschen und österreichischen Bundesregierung hätte manche moralisch aufgeladene Diskussion unterbunden. Unter Umständen hätte dies die öffentlich erst 1990 einsetzende inner-tschechische Diskussion erleichtert.

Arnold Suppan, Wien

Zitierweise: Arnold Suppan über: Stefanie Mayer: „Totes Unrecht“? Die „Beneš-Dekrete“ – eine geschichtspolitische Debatte in Österreich. Frankfurt a.M., Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2009. 159 S. = Politische Kulturforschung, 2. ISBN: 978-3-631-58270-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Suppan_Mayer_Totes_Unrecht.html (Datum des Seitenbesuchs)

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