Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerd Stricker

 

Gemeinsam getrennt. Bäuerliche Lebenswelten des späten Zarenreichs in multiethnischen Regionen am Schwarzen Meer und an der Wolga. Hrsg. von Victor Herdt und Dietmar Neutatz. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 308 S., Tab., Graph. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 7. ISBN: 978-3-447-05833-9.

Im Fokus dieses Sammelbandes über bäuerliche Lebenswelten in multiethnischen Regionen Russlands am Ende des 19. Jahrhunderts stehen deutsche Kolonisten in ihrer Beziehung zu slawischen und tatarischen Nachbarn: vor allem Wolga- und Schwarzmeerdeutsche. Die Herausgeber weisen darauf hin, dass in der populären, oft aber auch in der Spezialliteratur das Phänomen der sogenannten Russlanddeutschen bisher meist unter dem Aspekt ihrer Andersartigkeit gegenüber den russischen respektive ukrainischen und den tatarischen Nachbarn betrachtet wurde. Die Unterschiede sind unübersehbar – Sprache, Konfession/Religion, Mentalität, Arbeitsethos usw. Die Privilegien der Deutschen (also eine bessere Rechtslage), ihre fortgeschrittenere ökonomische und soziale Entwicklung sowie ihr besseres Bildungswesen vertieften die ursprünglichen Unterschiede. Die deutschen Siedler fühlten sich ihren Nachbarn gegenüber „überlegen, betrachteten sie als armselig, rückständig und dem Alkohol verfallen, stilisierten sich im Kontrast dazu selbst in der Rolle der ‚Musterlandwirte‘ und betonten stets die Unterschiede, nicht die Gemeinsamkeiten.“

Demgegenüber fordert Dietmar Neutatz im Einführungsbeitrag, „die Perspektive zu wechseln, die scheinbare Selbstverständlichkeit der Unterschiede […] in Frage zu stellen und jenseits der bekannten Ethnostereotype (‚deutsche Ordnung‘) und realen strukturellen Unterschiede nach Gemeinsamkeiten der ethnischen und konfessionellen Gruppen zu fragen“. Es müsse darum gehen, das bisher vernachlässigte Gemeinsame und Annäherungen aufzufinden. Da die deutschen Kolonisten seit den 1760er Jahren im russischen agrarischen Umfeld gelebt haben, „liegt es auf der Hand zu fragen, inwieweit sie in kulturgeschichtlicher Hinsicht in einem russländisch-bäuerlichen Kontext zu verorten sind. […] Es soll bei der geforderten Neubetrachtung darum gehen, historische und soziale Realitäten in Bezug zu ihren jeweiligen Wahrnehmungen und Wertungen, ihrer Widerspiegelung in Denkweisen und Geisteshaltungen zu setzen.“ So relativiere sich manche „bisher als Besonderes wahrgenommene Eigenart der deutschen Kolonisten und erscheint weniger als ethnisches Spezifikum denn als Variante einer russländisch-bäuerlichen, vielleicht sogar einer europäisch-bäuerlichen Lebensweise.“

Die 14 in diesem Band vereinigten Beiträgen ordnen sich verschiedenen Themenblöcken unter. Der Block „Demographie und Wirtschaftsweise“ wird eingeleitet durch einen Beitrag von Dmytro Myeshko (Düsseldorf) zur demographischen Entwicklung in einer lutherischen und einer katholischen Kolonie im Schwarzmeergebiet; signifikante, konfessionell bedingte Unterschiede seien nicht erkennbar. – Elena Lebedeva (St. Petersburg) zeigt am Beispiel lutherischer ingermanländisch-finnischer, lutherischer deutscher und orthodoxer russischer Bauern im Gouvernement St. Petersburg Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Einstellung zu Arbeit, Unternehmertum, Eigentum und Innovationen, die für den jeweiligen wirtschaftlichen Erfolg (namentlich der Deutschen) maßgeblich wurden. – Mariana Hausleitner (München/Berlin) weist darauf hin, dass der Beitrag von Juden und Deutschen an der Modernisierung Bessarabiens viel größer war, als es ihrer relativ geringen Zahl entsprochen hätte. Der höhere Bildungsstand beider Ethnien, ihr vergleichsweise gut entwickeltes ökonomisches Gespür, aber auch der im Zeichen des russischen Nationalismus wachsende Druck auf beide Minderheiten förderten ähnliche Entwicklungen, manchmal sogar ein Eintreten beider füreinander.

Im Kaptitel „Einstellungen und Interaktionen“ kommt die Position einiger ethnischen Gruppen zu konkreten Problemen des Alltags zur Sprache. Irina Čerkaz’janova thematisiert das Problemfeld Schule und Bildung am Beispiel von deutschen, russischen, bulgarischen, tatarischen und baschkirischen Bauern. Sie präsentiert – wohlfeile Stereotypen meidend – die enorme Vielfalt und die enge Verflechtung sozio-ökonomischer Bedingungen, Traditionen, Mentalitäten, sodann die soziale Schichtung in den Dörfern der einzelnen Ethnien (Geistliche, Lehrer, Bauern, Handwerker, Arme): Diese Vielfalt sei der eigentliche Grund für den relativ geringen Erfolg der russischen Regierung bei ihrem Bemühen am Ende des 19. Jahrhunderts, die Bildung im gesamten Reich anzuheben (auf S. 100 f werden mehrmals Litauer und Esten verwechselt). – Victor Dönninghaus (Freiburg) beschreibt das Verhalten von Russen und Deutschen angesichts ihrer Einberufung zum Militär. Obwohl bei Russen und Deutschen der Militärdienst (Kolonistensöhne waren erst seit 1874 dazu verpflichtet) gleichermaßen unbeliebt war, sind lediglich 4 % der Russen, jedoch (besonders in Kriegszeiten) 2040 % der jungen Deutschen dem Gestellungsbefehl nicht nachgekommen. Ursache dieses markanten Unterschieds sei gewesen, dass Ende des 19. Jahrhunderts Deutsche aus Russland emigrieren konnten und dies bei der Einberufung oft auch taten – die Russen hingegen eine solche Möglichkeit nicht hatten. – Aleksej Voronežcev (Saratov) vergleicht, wie die von Stolypin 1906 auf den Weg gebrachten Agrarreformen von den einzelnen Ethnien an- bzw. nicht angenommen wurden. Die Reformen griffen so tief in die bäuerlichen Lebenswelten ein, dass ihre massive Ablehnung vor allem durch russische Bauern verständlich wird, wohingegen viele deutsche Kolonisten die Möglichkeit der Übersiedlung nach Sibirien nutzten („Stolypin-Deutsche“).

Im Abschnitt „Religion und Frömmigkeit“ behandelt Veronika Shumska (Freiburg) die bekannte Annäherung von deutscher und slawischer religiöser Kultur in der Südukraine, den sogenannten „Stundismus“: Orthodoxe Saisonarbeiter hatten von ihren schwarz­meerdeutschen reformierten oder baptistischen Arbeitgebern evangelische Glaubensformen (Bibelstunden, Singen, pietistische Frömmigkeit u. a. m. bei gleichzeitiger Ablehnung der Ikonen) übernommen und waren zu quasi-baptistischen Positionen gelangt; 1870 wandten sie sich offiziell von der Staatskirche ab. Die Abtrünnigen wurden repressiert und durch die deutsch klingende Bezeichnung „Stundisten“ stigmatisiert.

Während Victor Herdt (Göttingen) im Themenbereich „Akkulturation und Assimilation“ die den Deutschen und Tataren an der Wolga gemeinsamen Russifizierungsängste und ihre unterschiedlichen Ursachen analysiert, untersuchen Nina Berend (Mannheim) und Gul’nara Ištuganova (Salavat) sprachliche Interferenzen zwischen dem Deutschen und dem Russischen bzw. zwischen dem Baschkirischen und dem Russischen, wobei sich zeigt, dass ins Baschkirische russische Elemente in stärkerem Maße bereits im 19. Jahrhundert, ins Deutsche aber überwiegend erst in der Sowjetperiode eingedrungen sind.

Im Themenblock „Lebenswelten im Spiegel literarischer Werke“ stellt Annelore Engel-Braunschmidt (Kiel) Werke des russischen Schriftstellers Anton Čechov („Mužiki“) und des wolgadeutschen Lehrers und Autors August Lonsinger („Nor net lopper g’gewa“) einander gegenüber, in denen detailreich russische und wolgadeutsche bäuerliche Lebenswelten um 1900 geschildert werden. – Natalie Kromm (Frankfurt/M.) wendet sich einem speziellen Aspekt im Schaffen des Schriftstellers Boris Pil’njak zu, der 1894 als Bernhard Wogau geboren, 1938 erschossen wurde. Sein Vater war Wolgadeutscher, seine Mutter Russin. Die Autorin stellt zahlreiche, meist unerschlossene wolgadeutschen Elemente in Pil’njaks Werk vor und schildert ihn als Autor, der sich zwar zur russischen Kultur bekannt, immer wieder aber seine wolgadeutschen Wurzeln thematisiert hat.

Nur wenige Beiträge haben keinen russlanddeutschen Bezug: Andreas Frings (Mainz) thematisiert die Apostasiewelle in Russland von 1865/66, im deren Rahmen getaufte Tataren in großer Zahl zur angestammten Religion zurückkehrten. Kerstin S. Jobst (Hamburg/Salzburg) diskutiert den russischen Krim-Diskurs vor dem Ersten Weltkrieg und verweist auf an der Basis parallel verlaufende russisch-tatarische Assimilationsprozesse. Und Klaus Heller (Gießen) zeigt am Beispiel von Werken Dmitrij Mamin-Sibirjaks und Pavel Mel’nikov-Pečerskijs auf, dass sich Ende des 19. Jahrhunderts altgläubige Kaufleute und Fabrikanten den tradierten Werten entfremdeten: In vielem glichen sie sich ihren gewinnsüchtigen, rücksichtslosen, betrügerischen und korrupten Konkurrenten an.

Der vorliegende Band bietet zahlreiche Facetten der Beziehungen zwischen bäuerlichen Lebenswelten der Russlanddeutschen, der Russen und der Tataren. Der Versuch, die Russlanddeutschen nicht isoliert als a priori etwas Besonderes zu betrachten, sondern sie in ihren ethnisch-religiösen Kontext zu stellen, ist vollauf gelungen. Dieser Band, so hoffen die Herausgeber, möge zu weiteren Detailstudien im Sinne einer differenzierten Neubetrachtung anregen – an Themen mangelt es wahrlich nicht.

Gerd Stricker, Zürich

Zitierweise: Gerd Stricker über: Gemeinsam getrennt. Bäuerliche Lebenswelten des späten Zarenreichs in multiethnischen Regionen am Schwarzen Meer und an der Wolga. Hrsg. von Victor Herdt und Dietmar Neutatz. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 308 S., Tab., Graph. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 7. ISBN: 978-3-447-05833-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Stricker_Herdt_Neutatz_Gemeinsam_getrennt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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