Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerd Stricker

 

Religious Diversity in Post-Soviet Society. Ethnographies of Catholic Hegemony and the New Pluralism in Lithuania. Edited by Milda Ališauskienė / Ingo W. Schröder. Farnham [etc.]: Ashgate, 2012. XIII, 212 S., 5 Abb., 2 Tab. ISBN: 978-1-4094-0912-0.

Inhaltsverzeichnis:

http://www.gbv.de/dms/greifswald/toc/662094743.pdf

 

Mit diesem Sammelband legen die Herausgeber eine beispielhafte Fallstudie vor, die vorführt, wie 20 Jahre nach dem großen Systemwechsel in Osteuropa eineEthnographie der Religion im postsozialistischen Umfeldangegangen werden sollte. In den neunziger Jahren, so die Herausgeber, hätten Religionssoziologen, Historiker, Theologen, Kulturologen und andere Interessierte den ThemenkomplexReligion im und nach dem Sozialismusnach anthropologischen Kriterien meist allzu generalisierend und allzu pauschal abgehandelt. Die Feststellung, Religiosität, Religion und Kirchen erlebten im einst monolithischenOstblockeine ungeahnte Renaissance, ziehe sich wie ein roter Faden durch viele dieser Studien. Der ebenfalls stereotype Hinweis auf einen sich seit den neunziger Jahren ständig ausweitenden religiösen Pluralismus simplifiziere das überaus komplexe PhänomenReligion in den postsozialistischen Ländernin unzulässiger Weise; derart pauschale Urteile würden den vielfältigen Entwicklungen nicht gerecht. Erst in den letzten Jahren habe eine differenziertere Erforschung dieser vielschichtigen Thematik eingesetzt, und zwar nach ethnographischen Kriterien.

Jedes Land müsse unter seinen speziellen religiösen, ethnischen und sozialen Bedingungen für sich betrachtet werden, da in Sachen Religion und Religiosität die Unterschiede zwischen den einzelnen Ostblockstaaten oft gewaltig warenund bis heute geblieben sind. Ein erhebliches Hindernis für eine problemorientierte Darstellung bilde das Fehlen zuverlässiger statistischer Daten, die im heiklen weltanschaulichen Umfeld schwer zu erheben sind. Allerdings müssten offizielle und auch inoffizielle (Untergrund-)Daten aus der sozialistischen Periode sehr genau überprüft werden.

In Anlehnung an Douglas Rogers (Introductory Essay: The Anthropology of Religion after Socialism, in: Religion, State and Society 33 [2005], S. 5–18) benennen die Herausgeber vier zentrale Themen, deren Berücksichtigung bei der Erforschung von Religiosität im postsozialistischen Umfeld unerlässlich sei: 1. der Zusammenhang zwischen Religion und ethnischen sowie nationalen Identitäten; 2. der Zusammenhang zwischen Religion und den Prozessen der ökonomischen Transformation; 3. Hintergründe von Konversion und Religionswechselimmer auch mit Blick auf religiöse Institutionen sowie auf religiöse Selbstverständnisse; 4. das Phänomen des in diesen Ländern weiterhin bestehenden Atheismus, der fortschreitenden Säkularisierung und der gegenläufigen De-Säkularisierung, wobei gerade Punkt 4) bedeutsam sei angesichts der Tatsache, dass Anthropologen die Religion in postsozialistischen Ländern prioritär mit Blick auf das Überleben und auf die Revitalisierung von Religion untersuchten, dabei aber bisher zu wenig berücksichtigt hätten, dass auch nach dem Zusammenbruch des Sozialismus antireligiöse Ressentiments weit verbreitet seien und dass die Säkularisierung in weiten Bereichenwie auch im Westenfortschreite.

Die staatliche Aufhebung der Restriktionen gegen die Religionsausübung habe zu vielfältigen und widersprüchlichen Ergebnissen geführt, die in starkem Maße von historisch-nationalen Entwicklungen sowie vom lokalen sozialen Umfeld bestimmt seien. Zuerst ist hier das Wiedererstehen traditioneller, in vielen Ländern einst dominierender Kirchen (Nationalkirchen) zu nennen: orthodoxer, katholischer, im Baltikum auch lutherischer. Hier spielen Fragen der nationalen und kulturellen Identität eine wichtige Rolle sowie die Vorstellung, dass die alten Nationalkirchen wieder an der politischen Macht zu beteiligen seien. Diesen Hoffnungen wirken Prozesse der Säkularisierung und des Pluralismus entgegen sowie die Tatsache, dass vielen neuen Kirchenmitgliedern Fragen der nationalen Identität und der nationalen Kultur wichtiger sind als der Glauben selbst. Wenn Kirchen heute beeindruckende Zahlen von Mitgliedern präsentieren können, so ist zu beachten, dass letztere vielfach stärker von nicht-spirituellen (nationalen, politischen und kulturellen) Motiven geleitet sind, als das vor 1917 bzw. vor 1941 der Fall war.

Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass der BereichReligiositätin Osteuropa heutzutage (wie auch im Westen) vom Auftreten neuer Religionenz.B. charismatischer (z.B. Pfingstchristen), ostasiatischer, esoterischer oder auch von New-Age-Gruppierungenbestimmt wird. Zwar sind die einzelnen Richtungen statistisch kaum relevant, doch allein ihre Existenz fördert das Entstehen individueller religiöser Identitäten. Für Osteuropa ist zudem die Gründung neo-paganer Gruppierungen charakteristisch, die behaupten, das Christentum habe die ursprünglichen Volks- und Stammesreligionen überdeckt. Die Wiederbelebung der alten Kulte solle der dekadenten Verwestlichung entgegenwirken, die authentischen Volksreligionen wiedererwecken und so zur geistigen Gesundung der betroffenen Ethnien beitragen (z.B. im Baltikum, in der Wolgaregion, in Sibirien usw.).

Nach der politischen Wende hat sich das religiöse Leben im östlichen Europa in hohem Maße diversifiziert. Das westliche Schlagwort vom religiösenMarkt der Möglichkeitentrifft in vollem Umfange jetzt auch auf Osteuropa zu: Der Suchende ist mit einem unüberschaubaren Angebot an neo-protestantischen und gänzlich neuen Denominationen mit christlichem Hintergrund sowie an nichtchristlichen Religionen konfrontiert. Jeder kann sich aus Elementen diverser religiöser Gemeinschaften seinen eigenen Glaubenzusammenflicken. Diese Gruppen sind meist klein und kurzlebig und die Übergänge fließend, die Fluktuation zwischen ihnen ist groß. Doch haben alle diese Entwicklungen (nicht nur in Osteuropa) die Erosion der Autorität der traditionellen Kirchen zur Folge. Die Herausgeber demonstrieren diese Entwicklungen überzeugend am Beispiel des traditionell katholischen Litauens, in dem zu Sowjetzeiten ein (nicht nur passiver) katholischer Widerstand das Moskauer Regime ständig beunruhigte. DieChronik der litauischen katholischen Kircheist ein beredtes Zeugnis dafür. (DieseChronikerschien ununterbrochen von 1972 bis 1991 und wurde in deutscher und englischer Sprache in denActa Baltica, Königstein/Ts. publiziert.) Am Beispiel der katholischen Kirche in Litauen wird detailliert dargelegt, wie einstige Volks- und Nationalkirchen heute von der neuen religiösen Freiheit betroffen sind: von den erwähnten Erosionsprozessen, vom religiösenMarkt der Möglichkeitenund namentlich von der allgemeinen Säkularisierung. Trotzdem ist die katholische Kirche als traditionelle Volkskirche in Litauenähnlich wie die in Polenweiterhin die dominierende Kirche im Lande, nicht zuletzt aus den erwähnten nicht-religiösen Gründen: Sie gilt weithin als Trägerin der nationalen Kultur. In den ländlichen Regionen Litauens ist die katholische Hegemonie bis heute unbestritten.

In diesen Gesamtrahmen stellen Herausgeber und Autoren (aus Litauen, Finnland, Deutschland und Amerika) ihre Beiträge zur heutigen religiösen Lage in Litauen. Eingeleitet wird der Band durch den programmatischen Beitrag von Ingo W. Schröder:Catholic Majority Societies and Religious Hegemony. Concepts and Comparisons“. Ein weitgespannter, von litauischem Nationalismus freier historischer Überblick führt tief in die Probleme der Religion im jahrhundertelang polnisch geprägten Litauen ein:The History of Religion in Lithania since the Nineteenth Century(Arūnas Streikus). Die übrigen Beiträge fächern einzelne Aspekte des heutigen religiösen Lebens in Litauen auf:We Are All in Exile Here: Perception of Death, the Soul and the Afterlife in Rural Lithuania(Lina Pranaitytė-Wergin);The Elusive Religious Field in Lithuania(Ingo W. Schröder);From Confrontation to Conciliation. On Syncratic Rapprochement between Catholics and Charismatic Evangelists in Lithuania(Gedimas Lankauskas);Romuva Looks East: Indian Inspiration in Lithuania(Michael F. Strmiska);The New Age Milieu in Lithuania. Popular Catholicism or Religious Alternative?(Milda Ališaus­kienė);Muslims in Catholic Lithuania. Divergent Strategies in Dealing with Marginality Status(Egdūnas Račius);The Neo-Buddhist White Lotus Movement in Search for Legitimacy(Donatas Glodenis). Ein facettenreiches Phänomen der litauischen Religionsszene wurde leider nicht thematisiert: die Orthodoxie, das unübersehbare orthodoxe Element also ausgeklammert (die russische Minderheit mit Weißrussen und Ukrainern macht noch immer 8,2 % der Bevölkerung Litauens aus). Damit bleibt auch die markante Gruppierung der orthodoxen Altgläubigen (priesterlose pomorcy) unberücksichtigt. Eine Studie über sie hätte gewiss zusätzliche aufschlussreiche Einsichten geliefert.

Dieser Band gehört in die Hand eines jeden, der sich für Litauen interessiert. Die einzelnen Beiträge enthalten reiches Material zur jeweiligen Thematik und bieten eine durchwegs spannende Lektüre.

Gerd Stricker, Zürich

Zitierweise: Gerd Stricker über: Religious Diversity in Post-Soviet Society. Ethnographies of Catholic Hegemony and the New Pluralism in Lithuania. Edited by Milda Ališauskienė / Ingo W. Schröder. Farnham [etc.]: Ashgate, 2012. XIII, 212 S., 5 Abb., 2 Tab. ISBN: 978-1-4094-0912-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Stricker_Alisauskiene_Religious_Diversity_in_Post-Soviet_Society.html (Datum des Seitenbesuchs)

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