Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Anton Sterbling

 

Nicolas Porta: Auf der Suche nach einer eigenen Identität zwischen Osten und Westen. Die Mitteleuropa-Konzeption bei Czesław Miłosz, Jan Patočka und Milan Kundera. Herne: Schäfer, 2014. 147 S. = Studien zur Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas, 12. ISBN: 978-3-944487-22-9.

Der Begriff „Mitteleuropa“ und seine verschiedenen Konnotationen spielten im intellektuellen und politischen Denken des 20. Jahrhunderts und im Besonderen auch in der Zeit des Niedergangs der kommunistischen Herrschaft und der sowjetischen Hegemonie eine wichtige Rolle im Selbstbesinnungs- und Selbstbestimmungsprozess der Völker Ostmitteleuropas. Das vorliegende Büchlein erinnert an vieles, das man über das „Mitteleuropa-Konzept“ und drei seiner wichtigsten Vordenker und Verfechter als gebildeter Europäer oder gebildete Europäerin wissen sollte. Mit der wörtlich zunehmenden Formulierung „erinnert“ finden sich indes nicht nur das wichtigste Verdienst dieses schmalen Bändchens, sondern auch seine deutlichen Grenzen bezeichnet: Es enthält inhaltlich für Belesene oder gar Sachkundige kaum etwas Neues, weder in der Faktendarstellung, noch in der Interpretation und Synthese.

Zunächst wird eine Annäherung an die räumliche Lage und kulturelle Identität „Mitteleuropas“ versucht, wobei auf verschiedene Auffassungsmöglichkeiten und entsprechende Abgrenzungsschwierigkeiten aufmerksam gemacht wird. Zudem wird, insbesondere in Anlehnung an Tomáš G. Masaryk, eine nationale und kulturelle Identitätsbestimmung Mitteleuropas im Sinne eines Bündnisses gleichberechtigter demokratischer Nationalstaaten, zwischen „Pangermanismus und Panslawismus“ (S. 19), umrissen.

Drei eher kurze, aber durchaus gelungene Porträts zu Leben, Werk und Wirken, zunächst von Czesław Miłosz, sodann zu Jan Patočka und schließlich zu Milan Kundera, die in jeweils eigenen Kapiteln folgen, enthalten immer wieder auch Querverweise und Einordnungsversuche, vermitteln beim genauen Lesen allerdings nur wenig neue Erkenntnisse. Dies ist kein ausdrücklicher Vorwurf, da es sich im vorliegenden Fall ja eher um eine essayistisch gehaltene Literaturstudie und keine Archivarbeit handelt.

Der Lebensweg des Literaturnobelpreisträgers von 1980 Czesław Miłosz wird ebenso wie dessen intellektuelles Profil, seine differenziert kritische Haltung zum Kommunismus und Kapitalismus, seine Auffassung von Mitteleuropa und der mitteleuropäischen Kultur als das „andere“, aus westlicher Sicht vielfach missverstandene Europa in wichtigen Grundzügen umrissen. Etwas unverbunden mit diesen Ausführungen wirkt am Ende dieses Teils die Bezugnahme auf Bronislaw Geremek und Adam Michnik und deren Verhältnis zur Europäischen Union.

Das recht kurze Kapitel zu Jan Patočka zerfällt eigentlich in zwei Teile. In dem einen wird vor allem Patočkas Weg zur Philosophie, insbesondere der Phänomenologie und dem Existenzialismus, unter gründlicher Kenntnis der antiken Philosophie nachgezeichnet, wobei nicht zuletzt der große Einfluss Edmund Husserls und die technikkritische Beschäftigung mit der (moralischen) Krise Europas herausgestellt werden. Im zweiten Teil geht es um das Helsinki-Abkommen 1975, die „Charta 77“, zu deren Verfassern Patočka zählte, und seinem Verhältnis zu Václav Havel. Diese Ausführungen bleiben skizzenhaft und gehen kaum über das Wissen gängiger Nachschlagewerke hinaus, wiewohl durch die Ausführungen einmal mehr die hervorragende Bedeutung des geistigen Widerstands und unbeugsamer Intellektueller in der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur deutlich werden.

Gehaltvoller und differenzierter wirkt das Kapitel über Milan Kundera. Auch bei diesem Denker und Schriftsteller werden wichtige Facetten der Biographie, des Werkes und des Wirkens nachgezeichnet, von der kommunistischen Begeisterung in der Jugend über den ersten Roman Der Scherz, der später auf Vermittlung Louis Aragons ins Französische übersetzt wurde und der Kundera, im Kontext des „Prager Frühlings“, im Westen schlagartig bekannt machte, über den literaturhistorisch und politisch sehr wichtigen Schriftstellerkongress in Prag 1967, die Zeit der „Normalisierung“ nach dem sowjetischen Einmarsch 1968 und des folgenden Exils Kunderas in Frankreich bis zu seinen späteren literarischen Arbeiten und essayistischen Gedanken zu Fragen Europas und der europäischen Identität. Wichtig erscheint, wie konsequent Kundera an dem vor allem aus dem Geist der Kultur und Kunst gewonnenen Begriff „Zentraleuropa“ festhält, und ebenso, welche Bedeutung er, wie auch viele andere mitteleuropäische Denker, dem Werk Franz Kafkas in diesem Betrachtungszusammenhang beimisst. Die Widersprüche um die Vergangenheit und die Persönlichkeit Milan Kunderas werden in den Ausführungen zwar nicht ganz ausgespart, aber doch recht zurückhaltend behandelt.

Das Fazit am Ende des Buches fällt denkbar knapp aus, wobei nochmals kurz auf die drei behandelten Protagonisten Bezug genommen und auf die Bedeutung des „Mitteleuropa-Konzepts“ für die Erweiterungs- und Integrationsvorgänge der Europäischen Union nach 1989 hingewiesen wird. Der Verweis auf die aktuelle „Eurokrise“, die vielleicht auch und vor allem als „moralische“ und „soziale Krise“ zu verstehen ist (S. 135), bleibt vage und spekulativ. Dazu passt das unmittelbar folgende Eingeständnis: „Was Mitteleuropa bzw. Europa ist, bleibt ein ewiges Rätsel.“ Das ist zwar eine berechtigte Einsicht, allerdings die unbefriedigendste, zu der man im Rahmen eines wissenschaftlichen Klärungsversuches gelangen kann.

Die Sprache des Bändchens lässt an vielen Stellen erkennen, dass Deutsch wohl eine noch nicht allzu gründlich angelernte Fremdsprache für den Autor ist. Begriffe, Sprachbilder und syntaktische Fügungen lassen vielfach den französischen Duktus des Denkens durchscheinen. Mitunter wirkt dies anregend und plastisch, mitunter aber auch schwer verständlich, so dass erst ein Rückübersetzungsversuch erforderlich erscheint, um den Sinn der Aussagen einigermaßen zutreffend zu erschließen. Gelegentlich erscheinen die Formulierungen aber auch schlicht danebengegriffen oder unsinnig. Um ein lektoriertes Buch kann es sich also nicht handeln. Als experimenteller essayistischer Versuch mag das noch durchgehen. Als Arbeit, die den Gütekriterien exakter Wissenschaft entspricht, wirkt das sprachliche Niveau und Format allerdings schon recht problematisch. Dem lässt sich auch ein kritischer Blick auf die Literatur und insbesondere die Sekundärliteratur hinzufügen. Dass diese recht schmal und hoch selektiv erscheint, sollte für sich genommen, angesichts des Umfangs und des einführenden Charakters des Büchleins, noch keinen gravierenden Einwand bilden. Dass aber sowohl aktuelle einschlägige Bücher zu der Thematik wie auch reichlich bekannte und viel diskutierte Standardwerke in der Sekundärliteratur vermisst werden, ist schon auffällig. Das vorliegende Büchlein hat den Charakter einer Annäherung an einen nach wie vor wichtigen und für das Verständnis der neueren Geschichte Europas aufschlussreichen Gegenstand, die von neugierigen und aufmerksamen Erkenntnisinteressen des Verfassers geleitet wird. Dies lässt immerhin hoffen, dass dem dann auch ein „Bohren dickerer Bretter“ folgen könnte.

Anton Sterbling, Görlitz

Zitierweise: Anton Sterbling über: Nicolas Porta: Auf der Suche nach einer eigenen Identität zwischen Osten und Westen. Die Mitteleuropa-Konzeption bei Czesław Miłosz, Jan Patočka und Milan Kundera. Herne: Schäfer, 2014. 147 S. = Studien zur Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas, 12. ISBN: 978-3-944487-22-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sterbling_Porta_Auf_der_Suche_nach_einer_eigenen_Identitaet.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Anton Sterbling. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.