Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ludwig Steindorff

 

Klerus und Nation in Südosteuropa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Hrsg. von Aleksandar Jakir / Marko Trogrlić. Frankfurt a.M. [usw.]: Peter Lang, 2014. 272 S., 4 Abb., Tab. = Pro Oriente. Schriftenreihe der Kommission für südosteuropäische Geschichte, 6. ISBN: 978-3-631-62876-8.

Inhaltsverzeichnis:

https://d-nb.info/1059312891/04

 

Der anzuzeigende Sammelband beruht auf einer Tagung der „Pro-Oriente-Kommission für südosteuropäische Geschichte“ in Split 2012 mit Teilnehmern aus acht Ländern, vier von ihnen aus der Gastgeber-Stadt Split. Der Band umfasst neben der Einleitung zwölf Beiträge, die sich auf das Verhältnis von Klerus und Nation bei Slowaken, Slowenen, Italienern, Kroaten, Bosniaken, Rumänen, Bulgaren und Griechen beziehen. Als Lücke in der Reihe empfindet man dabei das Fehlen von Texten zu Albanern und Serben. Die Beiträge zu den Slowaken und zur Entstehung des Partito popolare italiano sind zwar nicht durch den Titel des Bandes miterfasst, doch von Ansatz und Fragestellung her fügen sie sich in das Konzept des Bandes sehr gut ein. Sieben der Aufsätze beziehen sich auf die Rolle des katholischen Klerus in verschiedenen Ländern, einer auf den bosnischen ulema und vier auf orthodoxe Kirchlichkeit. Drei Beiträge sind auf Italienisch verfasst, zwei auf Englisch, die größere Zahl jedoch auf Deutsch, wobei es sich in mehreren Fällen um Übersetzungen aus den Muttersprachen der Verfasser handelt. Die behandelten thematischen Schwerpunkte reichen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Teils fassen die Texte Forschungsstände zusammen, teils sind sie aus Archivbeständen oder bestimmten publizierten Quellen heraus erarbeitet. Als hier besonders ertragreich seien die Beiträge von Massimiliano Valente über die Haltung der Kurie nach 1918 gegenüber der Frage der Stellung von Rijeka (Fiume) und von Oliver Schmitt über das Verhältnis von orthodoxem Klerus und extremer Rechter im Rumänien der Zwischenkriegszeit genannt. Auf eine nähere Vorstellung aller Beiträge sei hier verzichtet; dies leistet die Einleitung zum Band selbst, und das Inhaltsverzeichnis des Bandes ist über einen Link am Anfang dieser Rezension zugänglich.

Die Herausgeber sprechen in der Einleitung selbst die „Heterogenität“ des Bandes (S. 7) an. Gemeinsamen Nenner aller Beiträge bilden die Präsenz des Klerus als Akteur (oder als Objekt der Aktionen anderer) im Narrativ und die Verflechtung von nationaler und religiöser Identität. Die Konstellationen in den einzelnen Beiträgen sind jedoch ganz verschieden: der Klerus als intellektuelle Avantgarde der im Entstehen begriffenen Nation oder auch im Spannungsfeld zwischen konkurrierenden nationalen Ansprüchen; Differenzierungen innerhalb der Hierarchie und zwischen Welt- und Mönchsgeistlichkeit; für den katholischen Klerus die Ambivalenz zwischen Loyalität gegenüber der Gesamtkirche und Rom einerseits und Selbstverständnis als Sprecher nationaler Anliegen andererseits; unterschiedliche Haltungen im Umgang mit anderen Konfessionen bzw. Religionen und Nationen; der Klerus als Verbündeter bestimmter politischer Gruppen; sein Verhältnis zu Liberalen und antiklerikal Eingestellten; die nationale Aufladung des Sakralen und die Sakralisierung der Nation.

In allen behandelten Fällen erfolgte die Nationsbildung im Rahmen einer klar dominanten Konfession; diese wurde zum Kennzeichen nationaler Identität und oder sogar dominantes Distinktionsmerkmal wie im Falle der gegenseitigen Abgrenzung von Kroaten, Bosniaken und Serben. Die einzige Nation in Südosteuropa, die sich nicht über eine dominante Religion konstituiert, nämlich die albanische, ist im Band, wie gesagt, nicht vertreten.

Ivica Šarac geht in seinem Aufsatz über Die Rolle des Klerus im Prozess der Formierung nationaler Identität unter den Kroaten Bosnien-Herzegowinas [] (S. 145) davon aus, die gesellschaftlichen Gruppen seien in der Ausgangskonstellation des 19. Jahrhunderts „eth­nisch heterogen, aber religiös homogen“ gewesen. Welche ethnische Heterogenität soll dies gewesen sein? Entscheidend war, neben der sozialen Differenzierung und regionaler Identität, nur die Religion! Religions- bzw. Konfessionsgrenzen überwindende Versuche einer nationalen Identitätsbildung sind hier gescheitert. Der Umfang der einst religiös definierten Gruppen hat sich nicht geändert, nur ist die religiöse durch die nationale Identität überlagert worden.

Der Beitrag von Valery Stojanow über die Neu-Erfindung der Verleihung der Würde eines „Archon“ der bulgarischen orthodoxen Kirche an Laien, die sich als großzügige Förderer und Stifter betätigt haben, ist am besten dem investigativen Journalismus zuzuordnen. Unwidersprochen kann Stojanow auf Korruption, Missachtung von Kirchenrecht und Eitelkeit der Beteiligten verweisen, doch den Leser irritiert das plakativ gepflegte Arsenal an Negativschablonen des Autors – der Vatikan, die bulgarische Amtskirche, Neureiche, Kraftsportler. Trotz des geschilderten Sumpfes rechnet Stojanow abschließend mit dem Nutzen der historischen Erfahrung der bulgarischen Kirche aus „tausendjähriger Tradition“ (S. 239).

Vasilios N. Makrides zeichnet nach, wie sich die orthodoxe Kirche in Griechenland erst allmählich zum Protagonisten der Nationalstaatlichkeit profiliert hat, war die griechischsprachige Orthodoxie doch über das Phanariotentum eher eine Säule der multireligiös und multiethnisch bestimmten Identität des Osmanischen Reiches gewesen. Makrides verbindet einen gegen die Institution Kirche gerichteten Antiklerikalismus explizit mit dem Westen (S. 248); im orthodoxen Osten sei dieser „hauptsächlich auf der Ebene der kritischen oder spöttischen Äußerungen und der entsprechenden Gefühle“ geblieben. Das mag für die jungen orthodoxen Nationalstaaten gelten eben, weil die Nation auch über die Religion definiert war, aber dass „in Russland vor der Oktoberrevolution der Antiklerikalismus einigermaßen begrenzt war“, möchte ich zumindest für das städtische Milieu bezweifeln.

Der Band spiegelt, zugleich als Dokumentation der persönlichen Begegnungen in Split 2012, die Vielfalt möglicher Zugriffe auf das Thema „Klerus und Nation“ wider; er dient in seiner Gesamtheit als ein Überblick über zentrale Fragen der Geschichte Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert aus einer ungewöhnlichen Perspektive, er bietet Impulse zu weiteren Forschungen.

Ludwig Steindorff, Kiel

Zitierweise: Ludwig Steindorff über: Klerus und Nation in Südosteuropa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Hrsg. von Aleksandar Jakir und Marko Trogrlić. Frankfurt a.M. [usw.]: Peter Lang, 2014. 272 S., 4 Abb., Tab. = Pro Oriente. Schriftenreihe der Kommission für südosteuropäische Geschichte, 6. ISBN: 978-3-631-62876-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Steindorff_Jakir_Klerus_und_Nation.html (Datum des Seitenbesuchs)

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