Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ludwig Steindorff

 

Interkulturelle Ritualpraxis in der Vormoderne. Diplomatische Interaktion an den östlichen Grenzen der Fürstengesellschaft. Hrsg. von Claudia Garnier / Christine Vogel. Berlin: Duncker & Humblot, 2016. 180 S., 1 Kte. = Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 52. ISBN: 978-3-428-14784-7.

Inhaltsverzeichnis:

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Wie schon aus dem Titel des auf einer Tagung an der Universität Vechta beruhenden Bandes ersichtlich, fügen sich die Einleitung und die sechs Fallstudien in mehrere aktuelle Forschungslinien ein: Sie sind der auf Akteure und symbolische Kommunikation konzentrierten neuen Diplomatiegeschichte zuzuordnen. Sie sind als Beiträge zur Verflechtungsgeschichte oder auch zur Stereotypenforschung zu lesen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass es um Begegnungen zwischen verschiedenen Lebenswelten geht, dass verschiedene Regelwerke und Wertsysteme aufeinander treffen. Wie die Herausgeberinnen in der Einleitung selbst betonen, sanktionieren die Gesandten durch ihre Berichte die kulturelle Alterität.

Der Beitrag von Gerd Althoff bezieht sich auf Kontakte zwischen Polen und dem Reich im Hochmittelalter; eine der wichtigsten Hürden in der ungestörten symbolischen Kommunikation war mit der Christianisierung Polens beseitigt. Claudia Garnier geht auf die Erfahrungen und Wahrnehmungen westlicher Gesandter am Moskauer Hof ein. Anscheinend bestehen geradezu anthropologische Konstanten an Zeichen, die auch bei ganz unterschiedlichen gegenseitigen Erwartungshaltungen symbolische Kommunikation initiieren können. Bezogen auf den für den Westeuropäer befremdlichen Kreuzkuss wäre ergänzend zu verweisen auf den Aufsatz von Petr Stefanovič: Der Eid des Adels gegenüber dem Herrscher im mittelalterlichen Rußland, in: JGO 53 (2005), S. 497–505. Ich kann der Autorin nicht zustimmen, dass rituelle Ausdrucksformen damals die politische Realität konstituiert hätten, heute hingegen „bedeutungsloses Beiwerk inhaltsleerer Repräsentation“ seien (S. 63). Gewiss ist das Ritual vereinfacht und vor allem, von Ausnahmen abgesehen, säkularisiert, aber es sind noch immer Regeln der symbolischen Kommunikation zu beachten, und man kann diese Regeln instrumentalisieren. Und auch in der Vormoderne gehörten Momente des ‚ungezwungenen‘ Verhandelns eben durch „Unterhändler“ an nicht symbolisch aufgeladenen Orten zur Schaffung politischer Realität.

Jan Hennings vergleicht Verfahren der Dokumentation von Gesandtschaftsritualen: Für die britische Seite spricht er von „Erfahrungswissen“, das der eine Diplomat dem anderen weitergab, für die russische von „Behördenwissen“, Wissen, dessen Speicherung und Monopolisierung Sache des Gesandtschaftsamtes war. Ähnlich wie dem Rezensenten aus der monastischen Kultur vertraut, wird aus dem Beitrag zugleich deutlich, wie viel soziales Lernen notwendig ist, um fähig zu sein, im Rahmen pragmatischer Schriftlichkeit Abläufe so angemessen zu beschreiben, dass sie wiedererkennbar und nachvollziehbar sind. Redaktionell ungeschickt wird hier in einem deutschsprachigen Beitrag nicht die DIN-Transliteration für kyrillische Titel, sondern die amerikanische Transliteration verwendet.

Die Beiträge von Florian Kühnel und Christine Vogel beziehen sich auf britische und französische Diplomaten in Konstantinopel. Es war geradezu ein Spiel, jedem Gesandten den Eindruck zu vermitteln, gerade ihm würde etwas mehr an Ehre als Anderen erwiesen. Gábor Kármán befasst sich mit Gesandtschaften der siebenbürgischen Fürsten zum Pascha in Ofen. Der Handkuss des Gesandten stand nicht für eine Unterordnung des Fürsten unter den Pascha, sondern nur des Gesandten selbst. Denn hier kam etwas zum Tragen, was in dem Band mehrfach angesprochen ist: Während im europäischen Gesandtschaftsritual der Gesandte seinen Herrn vertritt und dessen Würde entsprechend empfangen wird, ist im osmanischen Gesandtenwesen der Gesandte Beamter im Dienst seines Herrn, und die ihm zu erweisende Ehre entspricht seinem Status in der Beamtenhierarchie – ein kulturelle Missverständnisse herausfordernder Unterschied.

Unter Nicht-Berücksichtigung des Beitrages zum Hochmittelalter heißt es, mich befremdend, in der Einleitung (S. 11): „Es geht also um jene Reiche, deren Zugehörigkeit zu Europa bis heute – derzeit wieder besonders aktuell und kontrovers – diskutiert wird: das Großfürstentum Moskau sowie das Osmanische Reich.“ Hier wird die Option der Ausgrenzung geradezu geschichtlich festgeschrieben. Demgegenüber erweist sich der Band als Plädoyer dafür, dass interkulturelle Kommunikation unabhängig von deutlichen Strukturunterschieden anstrebbar und möglich ist und dass es, statt scharfer Grenzen zwischen dem Wir und allen Anderen, vielfache Abstufungen von Vertrautheit und Fremdheit gibt.

Ludwig Steindorff, Kiel

Zitierweise: Ludwig Steindorff über: Interkulturelle Ritualpraxis in der Vormoderne. Diplomatische Interaktion an den östlichen Grenzen der Fürstengesellschaft. Hrsg. von Claudia Garnier und Christine Vogel. Berlin: Duncker & Humblot, 2016. 180 S., 1 Kte. = Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 52. ISBN: 978-3-428-14784-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Steindorff_Garnier_Interkulturelle_Ritualpraxis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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