Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Natali Stegmann, Regensburg

 

Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von K. Erik Franzen und Martin Schulze Wessel. München: Oldenbourg, 2012. 223 S., 12 Abb. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 126; Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, 5. ISBN: 978-3-486-71243-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Nach dem Ersten Weltkrieg stand das heldenhafte Opfer für die Nation im Mittelpunkt des Gedenkens. Ob es um Gefallene oder um Kriegsinvaliden ging; das nationale Gedenken sollte deren Opfer nachträglich einen Sinn verleihen. Diese Deutungsweise funktionierte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Zunächst stand dem die sozialistische Idee des finalen antifaschistischen Kampfes entgegen, der insbesondere in der poststalinistischen Zeit auf verschiedene Weise mit nationalen Gedenktraditionen versetzt wurde. Die Anerkennung richtete sich auf die Widerstandskämpfer als neue Helden; erst nur auf die kommunistischen und dann auch die bürgerlichen; Erlittenes musste innerhalb dieses Rahmens deklariert werden. Dies traf für die Satellitenstaaten und auch für die Sowjetunion zu. In der BRD wurde auch schon in den Nachkriegsjahren eher unspezifisch der „Opfer“ des Krieges gedacht. Die sechziger Jahre brachten dann eine Wende hin zur öffentlichen Betonung der Verbrechen des Nationalsozialismus, und die achtziger Jahre die Anerkennung des Holocaust als beispielloser Versuch eines Völkermords an den europäischen Juden. Das Bekenntnis zu der damit verbundenen Schuld wurde mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den Mittelpunkt der Geschichtspolitik gestellt. All diese Aspekte trugen zu einer Verschiebung der Wahrnehmung hin zu den unschuldigen Opfern bei, zu einer Viktimisierung des Gedenkens.

Mit der Anerkennung des Leids rückte für unterschiedliche Opfergruppen auch die Frage der Wiedergutmachung in den Vordergrund; Symbolpolitik und soziale Leistungen gingen oft eine Symbiose ein. Dabei ging es nicht nur um staatliche Politik, sondern auch um die Möglichkeiten für die Opfer, ihre Deutungen in den Diskurs einzubringen; Gedenkpolitik war und ist auch Aushandlungspolitik.

Mit diesem Komplex beschäftigt sich der Sammelband aus der Perspektive verschiedener Opfergruppen. Nach der Einleitung (Martin Schulze Wessel) und einem allgemeinen Beitrag zumpassive turnin der erinnerungskulturellen Forschung (Peter Hal­lama) sind diese im Detail folgende: antifaschistische Widerstandskämpfer in der DDR (K. Erik Franzen), Verfolgte des Stalinismus ebendort (Bettina Greiner), Zwangssterilisierte in Deutschland und Tschechien (Svea Luise Herrmann / Kathrin Braun), NS-Zwangsarbeiter in Deutschland und Tschechien (Katrin Schröder), Sinti und Roma in Tschechien (Václava Kutter Bubnová). Behandelt wird außerdem die Verschiebung in der (west)deutschen Wahrnehmung der Vertriebenen als Opfer, die sich zunehmend weiblicher Figuren bedient, um auf deren Hilflosigkeit und angebliche Unschuld hinzuweisen (Stephan Scholz). Des Weiteren wird der (erfolglose) Versuch sudetendeutscher Versicherungsnehmer beleuchtet, in Analogie zu jüdischen Opfern nachträglich Kompensation für die Nichtauszahlung von Lebensversicherungen zu erhalten (Ines Nachum). Je ein Beitrag befasst sich mit der Erinnerungspolitik in der Ukraine und der sich wandelnden Erinnerung an die Leningrader Blockade.

Die Beiträge sind alle von guter Qualität, so dass sich auch eine vergleichende Lektüre lohnt; überraschende Ergebnisse fördern sie jedoch nicht zu Tage. Der Sammelband zeigt vielmehr eindrücklich, wie stark sich die Gedenkkultur in den letzten Jahrzehnten verändert hat und mithin auch, dass sie nicht nurfrüher‘, sondern auch heute von Konjunkturen abhängt. Damit weist er sich insbesondere als Lehrmaterial aus.

Natali Stegmann, Regensburg

Zitierweise: Natali Stegmann, Regensburg über: Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von K. Erik Franzen und Martin Schulze Wessel. München: Oldenbourg, 2012. 223 S., 12 Abb. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 126; Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, 5. ISBN: 978-3-486-71243-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Stegmann_Franzen_Opfernarrative.html (Datum des Seitenbesuchs)

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