Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Ludmilla A. Trigos: The Decembrist Myth in Russian Culture. Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan, 2009. XXVIII, 239 S., Abb. = Studies of the Harriman Institute. ISBN: 978-0-230-61916-6.

Im Dezember 1825 probten junge russische Offiziere anlässlich einer kurzfristigen Thronvakanz den Aufstand gegen die Petersburger Autokratie. Untereinander zerstritten, dazu plan- und unterstützungslos hatten die Frondeure freilich keine Chance, die Revolte wurde rasch beendet, über 100 Personen mit Verbannung, Zwangsarbeit und Degradierung bestraft, fünf Rädelsführer gehenkt. Trotz dieses Scheiterns blieb der Dekabristenaufstand keineswegs folgenlos, wie Ludmilla Trigos postuliert: „The Decembrist Revolt had an enormous political and cultural impact.” Ausgehend von dieser Einsicht in die nachwirkende Relevanz einer faktologisch eher bedeutungslosen Offiziersrevolte untersucht das Buch „the fascination with and subsequent mythologization of the Decembrists, which began after their incarceration and continued through the twentieth century”. Trigos ist Literaturwissenschaftlerin, dementsprechend konzentriert sie sich auf „literary renderings of the Decembrist uprising and exile” (alle Zitate S. VII). Obwohl das Thema des Dekabristen-Mythos – schon aufgrund der Historizität der Dekabristen – dem weiten Bereich der Kulturgeschichte zuzurechnen ist und im Buch der Anspruch der Interdisziplinarität prononciert vertreten wird, ist ein primär literaturgeschichtlicher Duktus nicht zu überlesen: Es sind die literarisch-medialen Verarbeitungen der Dekabristen-Thematik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute, die die Autorin vor allem interessieren. Der rezensierende Historiker stolpert dabei weniger über die allzu elementar wirkenden Einführungen in den jeweiligen historischen Kontext als vielmehr über die Ausblendung von Fragen nach der Breitenwirkung bzw. sozialen Relevanz der vorgestellten Beobachtungen. Auch drängt sich schon zu Beginn die Frage auf, ob das Konzept des Dekabristen-Mythos bei einem Betrachtungszeitraum von mehr als anderthalb Jahrhunderten tragfähig ist.

In acht Kapiteln werden literarische, aber auch andere künstlerische Stilisierungen und Verarbeitungen des Dekabristen-Stoffes in chronologischer Ordnung präsentiert. Nach einer vorangestellten Einführung in die geschichtlichen Ereignisse macht Trigos den „Dekabristenmythos im 19. Jahrhundert“ (Kapitel 1) an drei großen Stationen fest: Puškin und Griboedov, die mit den Aufständischen gut bekannten „Zeitzeugen“, leisteten Wesentliches zur Etablierung des Mythos von „heroes striving for a lofty cause“ (S. 12). Figuren wie Herzen und Ogarev erschlossen die weiterwirkende politische Dimension der Thematik, Lev Tolstoj dagegen habe sich durch feine Ironisierung gegenüber den Dekabristen als „Mythenbrecher“ betätigt. In der Zwischenzeit freilich hatten auch die Dekabristen selbst kräftig an ihrem eigenen Mythos geschrieben (Kapitel 2); dass man sich selbst in seinen Erinnerungen unter den Vorzeichen eines patriotischen Märtyrertums präsentierte, dürfte kaum überraschen. Blieben Feierlichkeiten zu Ehren der Dekabristen im kaiserlichen Russland Geheimangelegenheiten revolutionär gesinnter Kreise, so nahm die Erinnerungskultur mit den Revolutionen von 1917 verschiedene Aufschwünge (Kapitel 3). Schon im März gründeten Literaten eine „Gesellschaft zur Erinnerung an die Dekabristen“ mit dem Ziel, deren Wirken nicht nur zu ehren, sondern auch der Bevölkerung in aller Offenheit zu erklären. Auch die Bolschewiki erkannten schnell die Chance, die adeligen Offiziersfrondeure zu revolutionären Vorfahren zu erklären und sich selbst damit legitimierend in eine hehre Ahnenriege einzuordnen. Dass Dmitrij Merežkovskij in seiner Novelle „Der 14. Dezember“ etwa zur gleichen Zeit die Dekabristen „dämonisierte“, passte nicht ins Bild und wird von Trigos als Ausdruck der „sozialen Instabilität“ (S. 68) des Revolutionszeitalters gewertet.

Die große Stunde der Dekabristen sollte selbstredend bei den Jahrhundertfeierlichkeiten 1925 (Kapitel 4) schlagen. Trigos beschreibt die Vorbereitungen einschließlich der Diskussion, inwieweit die unproletarischen Offiziere eigentlich bolschewistischen Gedenkens wert waren. Auf ganzer Linie durchgesetzt hat sich die Vereinnahmungsstrategie: Die Dekabristen wurden durch die Feierlichkeiten als Vorreiter der Sozialisten festgeschrieben. Damit konnte man nicht nur bürgerliche Revolutionäre ‚vorweisen‘, derer man vor Marxens gestrengem Blick ja dringend bedurfte, sondern hatte auch eine Schlacht gegen jene radikalen Bilderstürmer geschlagen, die nichts mehr von vergangener Kultur und Leistung wissen wollten. Die von Trigos diagnostizierte „selective preservation of the past and its symbols“ (S. 93) sollte ja bekanntermaßen zu einem Markenzeichen des sowjetischen Umgangs mit der Vergangenheit werden. Kapitel 5 stellt künstlerische Folgewirkungen der Zentennialfeiern vor: Jurij Tynjanovs Novelle „Kjuchlja“ (über den Dekabristen Kjuchel’beker) sowie die Kinofilme „Dekabristy“ und „Sojuz velikogo dela“, beide von 1927. Dass die konventionellste, ja ‚bürgerlichste‘ Verarbeitung des Themas, Aleksandr Ivanovskijs Film „Dekabristy“ bei der Bevölkerung am meisten Anklang fand, bestätigt bisherige Erkenntnisse zum Rezeptionsverhalten der Sowjetbevölkerung.

Auch der Umgang mit den Dekabristen unter Stalin ordnet sich gut in unser bisheriges Verständnis jener Jahre ein: Die Multivokalität bei der Thematisierung des Dekabristenaufstandes wurde unterbunden, ein monolithisches Verständnis der geschichtlichen Ereignisse verordnet. Eine der wichtigsten Annäherungen jener Zeit an die Dekabristen war Juri Šaporins Oper „Dekabristy“: Indem sie das Patriotische über das Revolutionäre stellte, reflektierte sie die „stalinistische Version des Mythos“ (S. 138). Die Ende der 1930er Jahre verbindlich festgezogene Interpretation des Themas blieb auch nach Stalin die offizielle Linie im Umgang mit den Dekabristen. Freilich meldeten sich in den 1960er und 70er Jahren (Kapitel 7) auch wieder andere Stimmen, oft aus dissidentischem Halbdunkel, zu Wort, die ihrerseits die Andersdenkenden des kaiserlichen Russland für eigene Visionen zu vereinnahmen trachteten oder aber den offiziellen Diskurs mit Ironie und Satire begleiteten. Das 8. Kapitel schließlich präsentiert künstlerische Verarbeitungen der Thematik aus der Zeit der Perestrojka und nach 1991. Dem Zeitgeist entspricht die Bandbreite von Comics bis hin zu gezielter Absurdität, was Trigos zum Befund einer bis heute andauernden Desakralisierung und Kommerzialisierung der Dekabristen bringt. Am Ende stehen recht legere Spekulationen über die Zukunft: Ob „‚Zar’ Vladimir“ (sic, S. 184) wieder ein einheitliches „patriotisches Narrativ“ durchsetzen wird?

Insgesamt spricht das Buch, indem es die künstlerische Auseinandersetzung mit den Dekabristen über die Zeit hinweg beschreibt, zahlreiche Entwicklungen der russischen Kulturgeschichte an, die wichtig und bemerkenswert, jedoch den Osteuropahistorikern nicht gerade unbekannt sind. Das Genuine der Untersuchung, der konkrete Umgang mit der Dekabristen-Thematik, wird mitunter in sehr linearer Deskriptivität präsentiert. Dabei wirken die – durchaus verdienstvollen – Beispielvorführungen bisweilen unausgewogen: Manches wird schnell abgehandelt, anderem, auch Randständigem, dagegen breiter Raum gegeben. Dass sich die Literaturwissenschaftlerin in ihrer kulturgeschichtlichen Studie auf diskursive Dimensionen bezieht, ist legitim, dass sie bisweilen zu suggerieren scheint, jede Äußerung zum Dekabristenaufstand wurde nur getan, um einen Mythos zu konstruieren, wirkt verzerrend. Überhaupt geht der Autorin das Konzept des „Mythos“ offensichtlich leicht von der Hand. Geht es aber wirklich immer um Mythen? Oder nicht einfach um den individuellen künstlerischen Umgang mit Geschichte und um kollektive Geschichtsbilder? Trigos definiert „Mythos“ und „Mythologisierung“ recht integrativ als „the way that a story takes on a life of its own after the event occurs“ (S. VIII). Diesem eigenen Anspruch wird die Autorin in ihrer Mythenbeschreibung sicher gerecht, problematisch aber bleibt, auch aus kulturgeschichtlicher Perspektive, die Ausblendung von Relevanzkategorien in der Studie. Konstruiert jede einzelne Annäherung an eine Thematik gleichermaßen einen Mythos? Trigos erweckt in ihrer Studien diesen Eindruck. Für den Historiker aber bleibt die Konstatierung historischer Mythologisierung ohne eine gewisse gesellschaftliche Reichweite letztlich eine beliebige Angelegenheit.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Ludmilla A. Trigos: The Decembrist Myth in Russian Culture. Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan, 2009. XXVIII, 239 S., Abb. = Studies of the Harriman Institute. ISBN: 978-0-230-61916-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Stadelmann_Trigos_The_Decembrist_Myth.html (Datum des Seitenbesuchs)

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